Die liebe Verwandtschaft
nehmen? Ich stehe so ungern Schlange.« Wir sehnten uns nach unsrer Heimat.
Mit einem Mal waren sie uns fürchterlich fremd, all diese fremden Länder mit ihrer erstklassigen Organisation, mit ihrem perfekt eingerichteten Leben, mit Expressbriefen, die tatsächlich vor der normalen Postzustellung ankommen, mit Bahnhofsuhren, von denen man die genaue Zeit ablesen kann, mit Personenaufzügen, die bis ins oberste Stockwerk fahren, mit Feuerzeugen, die wirklich Feuer geben. Wir wollten endlich wieder zweifeln dürfen, ob die Zeit, die wir von der öffentlichen Uhr ablasen, richtig war oder nicht, wollten endlich wieder den Briefträger verfluchen, der den dringend erwarteten Expressbrief nicht zugestellt hatte, weil ihm nicht sofort nach dem ersten Läuten die Tür geöffnet wurde, wollten endlich wieder feuchte Zündhölzchen vergebens an der feuchten Phosphorfläche reiben, endlich wieder in einem Land sein, wo es einerseits Atomreaktoren gibt und andererseits zu den Personenaufzügen das Schild »Außer Betrieb« gleich mitgeliefert wird. Wir wollten wieder oben auf dem Berg Karmel stehen und plötzlich, während wir trunkenen Blicks das unvergleichliche Panorama des Hafens von Haifa in uns aufnahmen, einen schmerzhaften Tritt in den Hintern verspüren und jäh herumfahren und einem bärtigen Unbekannten gegen über stehen, der zwar ein wenig überrascht, aber in keiner Weise verlegen die Worte hören lässt: »Entschuldigen Sie – ich habe Sie für jemand andern gehalten.«
»Und? Was soll’s? Darf ich fragen, warum Sie jemand andern in den Hintern getreten hätten?«
»Nein, das dürfen Sie nicht. Das geht Sie gar nichts an.«
O Heimat … O Heimweh …
Man muss es uns am Gesicht angesehen haben. Onkel Harry zog mich beiseite und sprach mir Trost zu.
»Ich weiß, dass ihr die Tage bis zu eurer Abreise zählt. Und das macht euch natürlich nervös. Wir Amerikaner haben große Erfahrung im täglichen Kampf gegen diesen Fluch unseres Jahrhunderts – gegen die Nervosität. Wir wissen Bescheid. › Entspannung ‹ heißt das Motto. Es hilft nichts, sich vor Nervosität zu verzehren. Warum seid ihr so nervös? Entspannt euch! Lacht! Seid glücklich!«
Mit diesen Worten streckte sich Onkel Harry auf die Couch und schloss seine Augen. »Ich entspanne mich … ich bin bereits entspannt … ich bin vollkommen ruhig … ich habe alle Sorgen vergessen … ich wiege mich auf den sanften Wellen der Entspannung … Großer Gott! Halb zwölf?! Mein Anwalt wartet auf mich …«
Er sprang auf und stürzte in den glühendheißen Sommertag hinaus. Ich nahm seinen Platz ein und versuchte seinem Rat zu folgen. Ich versuchte mich zu entspannen, nicht nervös zu sein, meine Sorgen zu vergessen, mich frei und unbelastet zu fühlen, an nichts zu denken, nicht an unsere Abreise und nicht an die neuen Koffer, deren Schlüssel verlorengegangen waren … nicht an unsere Wohnung in Tel Aviv, in der das Wasser jetzt schon einen halben Meter hoch stehen musste, weil wir den Hahn nicht abgedreht hatten … nicht an das Flugzeug, das nach dem Gesetz der Serie für einen Absturz fällig war … nicht an unsere Pässe, die wir schon seit drei Tagen nirgends finden konnten … nicht an das Telegramm, das ich schon längst hätte abschicken sollen …
Verzweifelt hockte ich auf der Couch, zitternd am ganzen Körper, ein klägliches Nervenbündel, ein Wrack. Die Erkenntnis, dass jeder beliebige Amerikaner sich beliebig entspannen konnte und ich trotz größter Mühe nicht, brachte mich dem Irrsinn nahe. Tante Trude, die zufällig ins Zimmer kam, merkte das sofort, brach in hysterisches Schluchzen aus und telefonierte nach dem Arzt.
Ich erklärte ihm, dass diese letzten Tage zuviel für mich waren. Meine Nerven ertrügen die Anspannung nicht mehr.
»Sie sind ein typischer Vertreter dieser neuen Generation von Neurotikern«, belehrte mich der clevere Mediziner. »Sie sind nervös und verkrampft. Deshalb können Sie sich nicht entspannen. Aber ich vertraue Ihnen eine psychologische Entdeckung an, die wir Amerikaner vor einiger Zeit gemacht haben: Es hilft nichts, sich vor Nervosität zu verzehren! Hören Sie auf damit und beginnen Sie zu leben! Vergessen Sie Ihre Sorgen! Vergessen Sie, dass Sie sich nicht entspannen können – und Sie werden sofort entspannt sein! Ruhen Sie sich aus! Fühlen Sie sich frei! Lachen Sie! Seien Sie glücklich! Entspannen Sie sich!«
Er schluckte hastig zwei Beruhigungspillen und verschwand.
Ich beherzigte seine
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