Die Lieben meiner Mutter
daran, dass er bereit gewesen wäre, mir zu antworten. Über Angelegenheiten, die ihn im Innersten berührt oder verletzt haben mochten, sprach er nicht. Sein vorsätzlicher Optimismus und seine geradezu japanische Abneigung, andere mit seinen intimen Gefühlen, mit einem Schmerz oder mit einer Ratlosigkeit zu behelligen, erlaubten ihm nicht, eine solche »Schwäche« zu zeigen.
Einmal habe ich ihn, kurz vor seinem Tod, schwer atmend am Fensterkreuz des Wohnzimmers gesehen. Er schien plötzlich keine Luft mehr zu bekommen und hielt sich am Fenstergriff fest, als könne er nur auf diese Weise seinen Sturz aufhalten. Als ich ihn fragte, was mit ihm sei, ob ihm etwas fehle, richtete er sich auf, drückte den Rücken durch, schüttelte den Kopf und setzte das Gespräch mit mir nach einer Pause fort, deren Länge ihm wohl nicht bewusst war. Nichts, gar nichts fehle ihm, es sei ihm lediglich entfallen, worüber wir zuletzt gesprochen hatten. Seinen Kindern gegenüber hat er von der Mutter nur mit Zuneigung und größtem Respekt gesprochen. Er habe das Glück gehabt, sagte er öfter, in seiner Frau genau die richtige Partnerin gefunden zu haben. Von seinen Freunden erfuhr ich Jahre später, dass er, der vier Jahre Jüngere, den Namen seiner verstorbenen ersten Frau vorzugsweise mit der angehängten Verkleinerungsform nannte: Ach,Luischen! So wie man zärtlich und abständig von einem schwierigen Kinde spricht.
Sicher ist, dass er alles getan hat, um seine Rolle als Ernährer und Beschützer der Familie zu erfüllen. Offenbar hatte er kein Bedürfnis, sich für die Untreue seiner Frau zu revanchieren, wozu er, ein ewig jung und gut aussehender Komponist und Dirigent, zweifellos Gelegenheit gehabt hätte. Ihm, dem Sohn einer Pastorenfamilie, ist die Libertinage seines Freundes Andreas wahrscheinlich fremd geblieben. Einmal schreibt ihm die Mutter gut gelaunt nach Hannover, wo er nach seiner Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft eine Anstellung an der Oper gefunden hatte und bei der Tochter eines Fleischers zur Untermiete wohnte: Du wirst doch nicht mit Hilde Ernst machen ! Und empfiehlt ihm vor einem ihrer Besuche in Hannover, er solle Hilde bitte beruhigen: Sie, die Mutter, sei schließlich kein Hausdrachen und werde es Hilde nicht weiter schwer machen.
Vermutlich hat Hilde ihren Untermieter nicht ohne eigene Absichten an ihren Fleischtöpfen teilhaben lassen. Aber nichts deutet darauf hin, dass Heinrich das halb kokette, halb ernst gemeinte Angebot seiner Frau, sich mit Hilde zu amüsieren, wahrgenommen hätte. Was die Mutter ihrem Geliebten schrieb – ihre Liebe zu ihm sei wie ein ruhiger stiller See auf dem Grunde ihrer Seele –, trifft jedenfalls auf die Liebe des Vaters zu ihr und seinen Kindern zu. Er war nicht nur der See, sondernauch der Fels in dem See – der einzige, an dem sie sich zeitlebens festhielt und auch festhalten konnte. Zu den Kosten seiner Unerschütterlichkeit gehörte wohl seine Weigerung oder Unfähigkeit, sich Anwandlungen der Verzweiflung zu gestatten.
3
Die Geschichte der Eltern beginnt mit einer in Tränen aufgelösten jungen Frau, die später meine Mutter sein wird, und einer ritterlichen Geste Heinrichs. Auf einem Studentenball in Leipzig, wo er Musik studiert, beobachtet er, wie sie von ihrem Tanzpartner nach einem Streit auf einen Stuhl gestoßen wird. Fassungslos sieht sie dabei zu, wie ihr »Herr« sich einer anderen Dame zuwendet. Die Unglückliche, die in ihrem wunderschönen Abendkleid sitzen bleibt, rührt das Herz des Zwanzigjährigen. Er habe es nicht ertragen, wird er mir später erzählen, sie von diesem rohen Kavalier derart missachtet zu sehen. Er sieht in ihr eine Prinzessin und fordert sie zum Tanz auf, wird aber abgewiesen. Erst später kommen sie ins Gespräch – sie erlaubt ihm, sie nach Hause bringen.
Mit dieser Szene – mit einer in ihrem Stolz gekränkten höheren Tochter, die einem anderen nachweint, und einem viel jüngeren mittellosen Musikstudenten aus dem Erzgebirge, der ihr Beistand gewährt – fängt alles an. Wenig später macht ihr der Student einen Heiratsantrag, doch die Begehrte zögert. Nicht nur, dass sie immer noch die Abfuhr durch ihren Tanzherren zu verwinden hat. Sie muss auch die strikte Ablehnungdes Kandidaten durch ihren Vater verkraften. Der Reichstagsabgeordnete und erfolgreiche Braunkohlen-Industrielle will sich nicht damit abfinden, dass sich seine Tochter einem mittellosen Korrepetitor aus dem sächsischen Urwald in die Arme wirft.
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