Die Lieben meiner Mutter
seine Mitgliedschaft inder NSDAP erfolgreich abgeleugnet hat. Bleibt als letzter Grund für sein Schweigen ein Konflikt mit seiner Frau. Für sie wäre die Geburt eines Kindes von einer Geliebten ihres Mannes eine tödliche Bedrohung, ein Seelenmord. An ihr möchte die Mutter nicht schuldig werden.
Wenn er sich doch nur äußern, ihr ihre Ungewissheit nehmen würde!
Schließlich fasst sie selber den Entschluss, den Andreas vielleicht von ihr erhofft hat. Sie begründet ihre Entscheidung, indem sie ihm von einem Traum erzählt, von einer langen Wanderung. Ihr Weg hat sie auf einem langen dunklen Pfad durch enge Felswände geführt und endet vor dem Engel der Gruft. Der Engel hat ein strenges, steinernes Gesicht, er hält ein Schwert in seinen erhobenen Händen. Sie sinkt vor ihm nieder, weint in die harten Falten seines Gewandes. Aber der Engel antwortet nicht, er kann nicht sprechen, er ist aus Stein. Plötzlich beugt er sich zu ihr hinab und berührt sie mit seinen Händen, es sind warme Hände, die Hände von Andreas. Auch seine Augen werden jetzt lebendig, es sind Andreas’ Augen. Sie spricht mit ihm.
Könnte ich nur eine einzige Nacht bei dir sein, deinen Atem spüren, dein Herz schlagen hören, dann wüsste ich, was gut, was schlecht ist. In deiner Nähe wird mein Gefühl so ursprünglich, so echt, daß es klar umrissen und stark ist, ohne jeden Schrecken. Doch du bist weit, weit fort. Und dichte Schleier senken sich wieder über mich. Es bleibt nichts als das Wissen, daß die Nähe zu Gott und zur Liebe sehr, sehr schmale Pfade sind. Lebe wohl – bleibgesund, erhalte dir deine Kraft, darum bitte ich oft, und sei gut zu mir.
Sie hat sich entschieden, sie wird das Kind nicht behalten.
Endlich kommt ein kurzer Brief. Andreas verweist auf seine dringenden Geschäfte, auf seine Verantwortung für 400 Mitarbeiter, auf den Stress von zwei bevorstehenden Premieren. Kein Wort in diesem Brief zur Schwangerschaft der Mutter.
Hat Andreas noch einen anderen Brief geschrieben, der nicht erhalten ist? Ich wünsche es der Mutter und auch ihm, ich suche in den Entwürfen der Mutter nach einem Zeichen, nach einer Reaktion auf einen solchen Brief oder Anruf. Es kann doch nicht sein, dass Andreas die Schwangerschaft der Mutter mit Schweigen übergangen hat! Oder hatte er Gründe, die Möglichkeit seiner Vaterschaft gänzlich auszuschließen?
Nach Monaten vergeblichen Wartens schreibt die Mutter einen Abschiedsbrief.
Ich habe ja keinen zeitraubenden Plauderbrief von dir gewünscht, sondern eine Antwort, Stellungnahme zu einer ganz persönlichen, für mich unendlich wichtigen Frage! Die Frage, ob ich dieses Kind bekommen soll oder nicht, ist für mich ebenso brennend und wichtig wie dir deine Aufgabe. Ein Ja oder Nein von dir hätte mir zu irgendeiner gültigen Entscheidung verholfen, da du nun einmal so direkt einbezogen bist in dieses mein verfluchtes Leben. Zwei Monate lang antwortest du überhaupt nicht und dann in einem Ton, dessen Eiseskälte jedes Gefühl in mir erstarrenläßt. Vor wenigen Monaten noch warst du dankbar, Graf, daß ich da war, dir schrieb, dich liebte. Heute ist dir dies alles zu viel. Es ist nicht der erste große Schmerz um dich, nicht das erste Mal, daß du mich aus deinem Leben aussperrst. Ich bitte dich: tu es ganz, tu es endgültig – ruf nicht wieder irgendwann für Minuten zurück, um mich dann wieder fortzustoßen. Leb wohl, laß es dir weiterhin so gut gehen und unsere mühselige Freundschaft ein Ende finden – um all dieser Tränen willen. Schreib’ mir nicht, frag’ nicht mehr nach mir.
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Warum fällt es Erwachsenen so schwer, die Wünsche und Ängste ihrer Kindheit ohne ein nachsichtiges Lächeln zu beschreiben? Woher rührt das Bedürfnis des sich Erinnernden, sich selber und seine Zuhörer des Abstands zu vergewissern, der ihn von der mythischen Phase seines Lebens trennt? Als müsse er beweisen, dass die nur noch in Bildfetzen und Halbsätzen aufbewahrten Leidenschaften der Kindheit keine Macht mehr über ihn haben?
Das letzte Kapitel von Willis Herrschaft über Hanna und mich steht unter dem Stichwort »Stutzen«.
Die Mutter musste ins Krankenhaus nach Garmisch, wir brachten sie zum Bahnhof und versprachen ihr, Tilla zu gehorchen und uns nicht mit Willi zu treffen. Willi stand an der Gartentür, als wir zurückkamen. Er erzählte meiner Schwester von einem dringenden Wunsch des Erzengels. Er brauche ein Paar Stutzen!
Hätten wir der Mutter
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