Die Lieben meiner Mutter
Ich habe letzte Woche ziemlich viel Chinin gefressen – ohne die gewünschte Wirkung und denke, die jetzige Krankheit war die Reaktion darauf. Heinrich will absolut nicht noch ein 5tes, ich selbst bin unentschlossen und unsicher, habe die ganz natürlichen Hemmungen. Andererseits, wenn ich an die Verhältnisse heut denke – kein Platz, keine Windel, nichts zu fressen usw. –, dann finde auch ich’s Wahnsinn, und so wird wohl Heinrich der Sieger bleiben. Aber schickt mir doch zu meiner Beruhigung den Korbwagen mit!
Andreas, den sie vielleicht für den Vater ihres fünften Kindes hält, muss sie einen ganz anderen Brief geschrieben haben. Sehnsüchtig wartet sie auf ein Wort von ihm. Und wieder einmal vergehen Wochen und Monate ohne eine Nachricht.
Wie immer steht sie morgens um sieben auf und bereitet aus wenig oder nichts das Frühstück für die Kinder, die zur Schule gehen. Nur Paul ist den ganzen Tag bei ihr und stromert auf dem Grundstück herum. Paul ist nun ihr Liebling; über ihn hat Willi keine Macht. Sie hält sich fest an dem unheimlich temperamentvollen kleinen Luder mit immer guter Laune u. voller Schelmereien. Er habe ein verflucht waches Köpfchen und gebe verblüffende Antworten, schreibt sie an Heinrich. Manche Worte mit z-, ts machten ihm noch Schwierigkeiten. Wenn man ihn auffordere, solche sperrigen Worte auszusprechen, begebe sich der gewitzte kleine Paul keineswegs aufs Glatteis. Das sage ich, wenn ich größer bin, jetzt bin ich noch zu klein!
Siestürzt sich in ihren Arbeitsalltag. Zimmer müssen aufgeräumt und gesäubert, Wäsche muss gewaschen werden, in der Kammer wartet ein Berg von kaputten Hosen, Jacken, Kleidern, Pullis. Während ich die Briefe aus ihren letzten Monaten lese, sehe ich die Mutter wieder in der Stellung, in der ich sie als Kind gesehen habe: gebeugt über die Nähmaschine, mit dem Fuß auf der Trittstange, die das Schwungrad antreibt, mit der einen Hand vor, mit der anderen hinter der zuckenden Nadel. Aber nun sehe ich nicht nur eine junge Frau, die den Stoff über dem Schiffchen strafft und nach vorne schiebt, ich weiß um den Tumult in ihrem Innern. Es ist noch früh am Morgen – ich weiß genau, es kommt wieder nichts von dir. Und weiß auch, wie die Stunden danach aussehen: Tränen, Unfähigkeit zur Arbeit, Bösesein mit den Kindern. Weißt du eigentlich, daß ich dies alles manchmal zurückdrehen möchte, in ewiges Vergessen tauchen, weil es zu viel Schmerz macht? Für die jetzigen vier schweren Wochen mache ich dir einen Vorwurf. Ein paar Worte von dir und alles wäre anders gewesen. So liegt so viel Verachtung, Gleichgültigkeit, Sarkasmus in deinem Verhalten.
War es ein Trost für sie, zumindest eine Ablenkung, wenn Hanna oder ich plötzlich hinter ihr standen; wenn sie Hanna oder mich bemerkte, uns zu den Schularbeiten oder, weil es Mitternacht war, zurück ins Kinderbett kommandierte?
Sie verbietet sich das Warten auf den Postboten, der jeden Morgen um die gleiche Zeit kommt. Sie wehrt sichgegen diesen Sklavenhalter ihrer Hoffnung und weiß doch, dass sie aufspringen und alles liegen lassen wird, wenn sie am Gartenzaun gegenüber sein Fahrrad lehnen sieht. Sie läuft den Weg hinunter, wartet am Gartentor auf den Boten, der sie bayrisch begrüßt und in seine Posttasche greift. Sie fürchtet, sie weiß, dass er nichts für sie dabeihat, jedenfalls nicht den Brief, den sie erwartet – und doch schaut sie ihm nach, als er zum nächsten Haus weitergeht, sie hofft, er werde plötzlich den Kopf wenden und mit einer Entschuldigung zurückkehren. Da habe er doch glatt einen Brief für sie aus Hamburg übersehen.
Auf dem Weg zurück ins Haus bilden sich in ihrem Kopf Halbsätze, die sie später auf gelbes Papier notieren wird. Sie versucht, ihrer Vorwürfe, ihrer Anklagen Herr zu werden, sie will ihn nicht unter Druck setzen.
Ich schreibe wenig, weil ich nicht sicher bin, ob meine Hoffnung zur Zeit mehr störend als helfend ist. Die Wege unserer Seelen sind verschlungen miteinander und die meine geht die Wege der deinen mit, still, schweigend, wissend, liebend.
Aber hat sie nicht einen Anspruch auf ein Wort von ihm? Vielleicht behindert ihn etwas, eine Krankheit, ein Asthmaanfall, eine Denunziation, eine Ahnung seiner Frau.
Du läßt nichts von dir hören. Ich habe das sichere Gefühl, daß dich irgendetwas bedroht.
Aber Andreas ist nicht krank, er inszeniert in München und in Hamburg. Das Entnazifizierungsverfahren gegen ihn ist abgewendet, weil er
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