Die Lieben meiner Mutter
über seine Lügen und Betrügereien erzählen. Und wehe, sie würde ihre Stutzen an Willis Waden sehen!
Hanna befahl mir, nie mehr mit Willi zu sprechen undihr Bescheid zu sagen, falls er versuchen sollte, mich allein zu treffen.
Ich verschwieg ihr, dass Willi mich bereits nach der Schule abgepasst und gewarnt hatte: Meine Schwester sei vom Erzengel abgefallen und werde dafür in der Hölle büßen. Er könne sie nun nicht mehr schützen. Sie sei immer noch eine Evangelische – und nicht umsonst habe sie diese feuerroten Haare.
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Die Versorgungslage verschlechterte sich rapide. Als ein Gemeinwesen unter 20 000 Einwohnern hatte Grainau keinen Anspruch auf Sonderzuteilungen. Es ist zum Kotzen, schreibt die Mutter, es gibt kein Fett, weder Margarine noch Butter, Zucker haben wir auch nicht, also absolut nichts aufs Brot. Abgesehen vom Mehl und von Kartoffeln, lässt sie Heinrich wissen, lebe die Familie seit Monaten ausschließlich von seinen Paketen.
Ständig gehen zwischen Heinrich und seiner Familie Pakete hin und her. Die Mutter bittet ihn um Kernseife, Stecknadeln und waschfeste Gummibänder, die sie in die Pyjamas und in die Unterwäsche der Kinder einnähen kann. Heinrich fehlen Handtücher, Notenpapier und das Neue Testament – das er als Material für ein neues Werk namens »Psalmengebet« verwenden will. Manchmal überrascht Heinrich seine Frau mit Kaffee und anderen kaum zu beschaffenden Dingen. Einmal hat er ihr ein französisches Parfum besorgt, ein anderes Mal eine von ihr erwünschte Creme gegen Altersfalten. Sie bedankt sich mit Liebeserklärungen, die seiner Fürsorge und seiner Unerschütterlichkeit gelten, sie wünscht sich seine Nähe und endlich eine gemeinsameWohnung mit ihren alten Möbeln. Sie möchte ihn besuchen, ihn beglücken und muss dann doch absagen. Komme nun doch nicht, habe meine Tage, gemein!
Bis mittags isst sie manchmal gar nichts, die Kinder muss sie oft mit trockenem Brot abspeisen. Abends brät sie Kartoffeln mit dem letzten Öl, aber der Vorrat geht zur Neige. Für die einzige Abwechslung des Speisezettels sorgen die Wohltaten von Johanna Hirth. Sie beschenkt die Kinder mit »Frühstückspackungen« aus den Care-Paketen, die sie von amerikanischen Freunden des Hauses geschickt bekommt. Darin sind Kekse, Schokolade und auch Zucker.
Wir hatten jetzt 3 Riesenbüchsen amerikanischer Tomaten, von denen wir schon seit 14 Tagen leben. Was uns die Hirths helfen und schenken, das ist überhaupt nicht aufzuzählen.
Die ganze Familie plagt sich mit Furunkeln. Die letzte Blutsenkung der Mutter ist so schlecht ausgefallen, dass der Arzt eine Entzündung in ihrem Körper vermutet, seine Diagnose lautet: fotolabile Sepsis . Manchmal ist sie zu schwach, morgens aufzustehen. Im nächsten Monat will sie in ein Sanatorium nach München gehen, um sich auszukurieren.
Gleichzeitig hat sie immer mehr Aufgaben und Schwierigkeiten zu bewältigen. Hanna und ich müssen bei den Schulaufgaben schärfer beaufsichtigt werden. Ihr Verhältnis zu Tilla hat sich deutlich abgekühlt. Wenn die Mutter nicht im Hause ist, singt sie aus voller Brust »Die Fahne hoch« und »Deutschland, Deutschland überalles«, sodass es auch die Nachbarn hören. Zu oft sitzt Tilla oben bei Herrn Halbeisen, der über unbegrenzte Mengen von Schmuggelware zu verfügen scheint, und betrinkt sich.
Das sind Zustände hier, unbeschreiblich. Halbeisen, der 2 Kisten Schnaps hat, macht jetzt schon – in kurzen Abständen – den 3. Saufabend. Einmal kotzte er mir das ganze Klo voll. Gestern ein solches Toben, getanzt und geschrien haben sie, daß ich die Nacht kein Auge zutat, die Kinder ebenfalls nicht. ½ 1 Uhr ging ich rauf und bat um etwas Ruhe. Darauf kam er und noch so ein besoffener Kerl in mein Zimmer, ich solle doch auch mittun! Ich lehnte ab, bat um Ruhe, der Krach wurde nur noch doller. Gegen 4 Uhr gingen die »Gäste«! Ich nahm ein Schlafmittel, wachte dann von einem wüsten Geschrei auf, er schmiß Emmy raus, brüllte »raus mit allen Klamotten«, schmiß mit Schuhen, Stühlen und allem, was er fand. Ich klopfte und sagte, Emmy sollte runterkommen, da schrie er mich an und ging auf Emmy los, sie schrie um Hilfe, offenbar hatte er sie an der Gurgel, ich rannte zu den Geigers, nachts um ½ 5 Uhr, und bat, ihr Freund, der »Hitlerjunge Quex«, möchte kommen. Niemand kam, Halbeisen brüllte weiter, Emmy brüllt, bis dann gegen 6 Uhr Ruhe wurde. Ich mußte um 8 Uhr aufstehen und arbeiten, dieses Pack liegt in den
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