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Die Lieben meiner Mutter

Die Lieben meiner Mutter

Titel: Die Lieben meiner Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Schneider
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sie, sie bedrohte sie. Aber Hanna gab keinen Laut von sich.
    Viele Jahre später erzählte mir Hanna, sie sei bei dem Gespräch im Schuppen einen Augenblick lang bereit gewesen,der Mutter alles zu gestehen. Sie habe sich, als sie Tränen in den Augen der Mutter sah, fest vorgenommen, das Gelöbnis gegenüber Willi und dem Erzengel zu brechen. Aber ihre Lippen seien wie zugenäht gewesen. Es sei nicht die Angst vor den manchmal jähzornig ausgeteilten Züchtigungen der Mutter gewesen, die ihr den Mund verschloss. Vor Hannas Augen standen die Höllenstrafen, die auf sie warteten, wenn sie sprechen würde. Kinder, die ihren Schwur auf den Erzengel brechen würden, hatte Willi ihr gesagt, seien dem Teufel hilflos ausgeliefert. Und der Teufel lauerte überall – in der Schule, an jeder Straßenecke auf dem Heimweg und erst recht zu Hause und im Schuppen. Nur am Holzkreuz mit dem geschnitzten Heiland am unteren Dorfplatz sei Hanna sicher. Aber dort konnte sie ja nicht ewig stehen bleiben. Sobald sie sich aus dieser Schutzzone entfernte, würde sie der Teufel packen, mit schwarzem Pech übergießen und dann kopfüber in einen der Höllenschlünde schleudern, die an allen Ecken in Grainau auf die Sünder warteten, die vom Pakt mit dem Erzengel abgefallen waren. Die Flammen würden an ihr emporzüngeln, aber das Pech an ihrem Körper würde niemals ausbrennen.
    Ratlos schrieb die Mutter an den Vater, das Gespräch mit ihrer Tochter habe nichts ergeben. Sie sei froh, dass sie noch die drei Jungen habe.
    Fortan verbot sie uns, das Grundstück ohne ihre Erlaubnis zu verlassen, sie untersagte uns jeden Umgang mit Willi. Aber wenn sie mit Linda oder anderen Besuchernin ein Gespräch vertieft war, schlichen Hanna und ich aus dem Haus. Was soll ich nur tun, fragt die Mutter den fernen Vater in Hannover. Sie könne die Kinder doch nicht jeden Tag verdreschen, könne sie nicht jeden Tag zur Strafe hungern lassen!
    An die folgende Szene, die die Mutter in einem Brief an Heinrich festgehalten hat, haben Hanna und ich keinerlei Erinnerung. Sie sieht ihre Kinder auf dem Nachhauseweg von der Schule, aber sie gehen an der Gartentür vorbei, sie kommen nicht nach Hause. Sie laufen mit ihren Schulranzen wie Gefolgsleute, wie kindliche Sklaven hinter Willi her. Die Mutter ruft ihre Kinder zu sich, befiehlt ihnen mit überschlagender Stimme, sofort nach Hause zu kommen. Ihre beiden Kinder gehen weiter, als hätten sie sie nicht gehört. Als die Mutter hinter ihnen her schimpft und ihnen droht, drehen sie ihr die Köpfe zu, sie lachen – und trotten weiter hinter Willi her.
    Die viel beschworene Unschuld von Kindern ist ein Märchen für Erwachsene. Kinder unterwerfen sich ihren Eltern, solange ihre Autorität intakt ist und sie sich behütet fühlen. Wenn die Macht der Eltern zerbricht, sind sie imstande und bereit, die Seite zu wechseln und einer anderen Macht zu gehorchen. Und sie wissen, was sie tun, wenn sie lügen und ein Verbot übertreten. Es macht ihnen sogar Spaß, die alte Macht vor den Augen des neuen Führers bloßzustellen. Sie wollen ihm gefallen, dem neuen Führer, sie wollen ihm ihren Gehorsambeweisen, indem sie ihre alten Bindungen vor seinen Augen aufkündigen.
    Hanna und ich waren keine Opfer, als wir über unsere Mutter lachten. Damals haben wir sie verraten.

20
    Trotz aller Anstrengungen der Mutter, sich von Andreas zu lösen, hat ihre Leidenschaft für ihn nie ihre Macht über sie verloren. Nach dem Abschied in München kommt es doch wieder zu einer Begegnung und zu einer – eigentlich unmöglichen – Wiederannäherung. Entschlossen versucht sie, ein paar neue Regeln durchzusetzen. Sie verlangt, dass Andreas ihr mehr von seiner Zeit widmet; sie will endlich einmal ein ganzes Wochenende mit ihm verbringen; sie möchte mit ihm arbeiten.
    Aber nun wird eine Affäre, die im Wissen um die Schwächen und wunden Punkte des anderen wieder aufgenommen wird, ernster als sie je gewesen war. Die Mutter wird schwanger und ist sich nicht sicher, ob Andreas oder Heinrich der Vater ihres entstehenden fünften Kindes ist. Sie ist hin und her gerissen, wie sie mit dem neuen Leben, das in ihr wächst, umgehen soll. In einem Brief an die Oma kündigt sie, fast nebenbei, das Ereignis an.
    Wieder eine Schwangerschaft (2.–3. Monat zur Zeit). Wir sind beide nicht begeistert davon, und ich werde wohl nach dem 3. Monat in die Klinik nach München gehen. Wir haben einen Arzt,der dazu bereit ist, vor allem auch wegen meiner labilen Gesundheit.

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