Die Lieben meiner Mutter
von diesem Auftrag erzählt, sie hätte uns vielleicht allein durch ihr Gelächter davon erlöst. Sie hatte sich einmal über die handgestrickten Wadenwärmer lustig gemacht, die die Bauern an ihren Beinen trugen. Warum sie ausgerechnet an den Waden frieren würden, und das im Sommer, hatte sie gefragt. Niemandauf der Welt trug ein solches Kleidungsstück außer den Einheimischen in diesem gottverlassenen Dorf!
Warum ausgerechnet der Anführer der himmlischen Heerscharen, der doch meistens flog, Stutzen brauchte, blieb Hanna und mir ein Rätsel. Aber wir zweifelten nicht an der Gültigkeit des Auftrags. Egal wie Hanna es anstelle, hatte Willi gesagt, innerhalb von drei Tagen müssten die Stutzen fertig sein.
Ich weiß nicht, woher Hanna die Wolle nahm. Nach der Schule verzog sie sich sofort ins Kinderzimmer und nahm mit rasenden Nadeln den Wollfaden auf. Am frühen Morgen stellte sie sich den Wecker und strickte weiter an dem Rand, den sie spätnachts aus der Hand gelegt hatte. Hastig steckte sie ihr Strickzeug unter das Kopfkissen und stellte sich schlafend, als Tilla hereinkam, um uns zu wecken. Nach der Schule setzte sie die Arbeit an den Stutzen fort. Kurz und appetitlos nahm sie am Abendessen teil und strickte mit glühenden Wangen weiter.
Am Tag vor der Rückkehr der Mutter hatte Hanna einen Einfall. Sie wollte die Mutter durch einen Hausputz überraschen. Tilla hatte die halbe Nacht mit Herrn Halbeisen und Frau Fröhlich gesungen und getrunken und kam nicht aus dem Bett. Unter Hannas resoluter Anleitung bezogen wir die Betten, wischten die Böden, schrubbten Bad und Küche.
Die Mutter konnte sich nicht fassen, als Hanna ihr dasHaus vorführte. Ahnungslos berichtet sie Heinrich, die süße Hanna habe alles tadellos gemacht, sitze am Fenster und stricke wie eine Alte. Und gesteht ihm in bester Laune einen Fressanfall. Sie sei so todmüde und hungrig gewesen, dass sie unbeherrscht die Fettbüchse aufgemacht und fünf Schnitten hintereinander verschlungen habe – aber den Kindern auch welche schmierte .
Meine Schwester hatte Ringe unter den Augen, als sie mir die fertigen Stutzen zeigte. Mit meinen Strichbeinen war ich nicht das geeignete Modell, um zu prüfen, ob die Stutzen passten. Bis auf ein paar fallen gelassene Maschen fand ich ihr Strickwerk makellos.
Nachdem Hanna die Stutzen Willi übergeben hatte, erwarteten wir am anderen Morgen die Ankunft des Erzengels Michael. Der Engel, hatte Willi uns versprochen, würde kommen, sobald die Sonne aufginge. Wie haben wir uns seine Ankunft vorgestellt? Als eine Lichterscheinung vor dem Fenster? Als eine menschenähnliche Gestalt, die eine Hand durch das Fenster strecken und unsere Namen nennen würde? Würde der Erzengel Hannas Stutzen schon an seinen Waden tragen? Und was würde passieren, wenn er Hannas und meine Hand ergriffen hätte? Würden wir auf seinen Flügeln dicht an den senkrechten Felswänden hinauf zu den Gipfeln der Waxensteine fliegen oder erst einmal flach über die Häuserdächer gleiten? Ich glaube nicht, dass wir eine genaue, erzählbare Vorstellung von dem Wunder hatten, auf das wir warteten, aber wir zweifelten nicht daran, dass es geschehen würde. Hanna hatte sichSorgen gemacht, ob wir beide durch das enge Sprossenfenster passen würden. Willi hatte sie beruhigt. Wenn der Erzengel kommt, hatte er gesagt, weicht alles – Fensterrahmen, Wände und auch Mauern.
Hanna hatte das Fenster vorsichtshalber vor dem Schlafengehen für den Engel geöffnet. Die Luft, die über Nacht in das Zimmer drang, war eiskalt. Dennoch schwitzten wir, als ein fahler Widerschein des Morgenlichts ins Zimmer drang. Abwechselnd streckten Hanna und ich den Kopf aus dem Fenster. Wir warteten, bis das Tageslicht heller wurde und, von der Sonne durchglüht, zu leuchten begann, wir warteten immer noch, als der Lichtschein langsam fortwanderte und unser Fenster im Schatten ließ.
An diesem Morgen begann Hanna ihren Glauben an Willi und an den Erzengel zu verlieren. Sie stellte Willi zur Rede und gab sich mit seinen Ausreden nicht mehr zufrieden. Als er sie, statt sich zu rechtfertigen, frech aufforderte, hundert Gramm Butter für den Engel zu besorgen, war der Bann für sie gebrochen. Butter, das war nun einmal das kostbarste, das am schwierigsten zu beschaffende Lebensmittel, das der Mutter am meisten fehlte.
Hanna verlangte die Stutzen zurück. Sie drohte Willi: Wenn er ihr die Stutzen nicht bis zum Abend bringen werde, würde sie ihren und seinen Eltern alles
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