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Die Lieben meiner Mutter

Die Lieben meiner Mutter

Titel: Die Lieben meiner Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Schneider
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mir verboten hatte, die Axt in die Hand zu nehmen. Willi entband mich von dem Verbot. Einer wie ich, der zum katholischen Glauben übergetreten sei und nun unter dem besonderen Schutz des Erzengels stehe, müsse keinem Menschen mehr gehorchen.
    Ich machte mich daran, die letzten Holzstücke zu zerteilen. Da die Schnittflächen nicht eben waren, wollten die Stücke oft nicht stehen bleiben, wenn ich sieauf den Holzklotz stellte. Ich musste sie mit der freien Hand festhalten und die Hand in dem Augenblick wegziehen, in dem ich die Axt niedersausen ließ. Wegen der Winterkälte trug ich Fausthandschuhe. Der Handschuh, mit dem ich das Holz festhielt, ließ mir einen gewissen Spielraum. Je schmaler die Scheite wurden, desto genauer musste ich auf die freie Stelle dicht neben dem Handschuh zielen. Irgendwann passierte es: Als ich die Axt in das letzte, noch zu zerteilende Scheit hieb, traf ich den Handschuh. Ungläubig blickte ich auf den sauberen Schnitt im Stoff, aus dem etwas Watte quoll. Da ich keinerlei Schmerz spürte, stellte ich mir ein neues Scheit zurecht und nahm mir vor, den Handschuh später heimlich zuzunähen, damit die Mutter nichts bemerkte. Erst beim neuen Ausholen sah ich, dass sich der Handschuh rot verfärbt hatte. Mit einem Ruck zog ich ihn von der Hand und blickte ratlos auf den roten Fleischlappen, der von der Wurzel meines Zeigefingers bis zum Mittelglied herunterhing. Ich schrie, obwohl ich nicht den geringsten Schmerz fühlte.
    Willi sprang von der Schaukel ab und hielt mir den Mund zu. Was ich für ein Idiot sei, schimpfte er, nicht einmal Holz hacken könne ich. Ich solle sofort mit dem Flennen aufhören, ich sei ein Soldat des Erzengels – und Soldaten weinen nicht, sie ertragen jeden Schmerz.
    Geduckt liefen wir am Rand des Grundstücks zur Straße. Um die Gartentür zu vermeiden, kletterten wir überden Zaun und rannten zum Haus von Dr. Krause. In dem geheizten Wartezimmer taute der Finger auf. Ich war überrascht, wie viel Blut aus einem einzigen Finger strömen kann. Der ganze Finger war nicht nur rot von Blut, auf einmal schmerzte er auch höllisch. Willi redete auf die Schwester ein und erreichte, dass wir vor anderen Patienten zu Dr. Krause vorgelassen wurden. Willi kannte Dr. Krause, er duzte ihn sogar und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Dr. Krause untersuchte den Zeigefinger und fand, ich habe Glück gehabt. Offenbar habe mein Schutzengel die Axt im letzten Augenblick gestoppt; statt den ganzen Finger abzutrennen, sei sie einen Millimeter vor dem Mittelgelenk abgelenkt worden und habe nur das Stück Fleisch abgeschnitten, das Dr. Krause wie einen Lappen hin und her bewegte. Willi sah mich triumphierend an. Arbeiteten die beiden zusammen?
    Der Arzt nähte meinen Finger wie einen Handschuh mit Nadel und Faden zusammen. Dass ich dabei kaum etwas spürte, erschien mir wie ein weiteres Wunder des Erzengels.
    Nach der Operation setzte mich Willi vor der Gartentür ab. Er schärfte mir ein, der Mutter nichts von der Ursache des Unfalls zu erzählen. Ich solle ihr erklären, dass ich beim Schnitzen eines Pfeils mit dem Taschenmesser abgerutscht sei und Willi mich danach zum Arzt gebracht hätte.
    Inzwischen hatte ich gelernt zu lügen, und meistens log ich mit Erfolg. Aber diesmal glaubte mir die Mutter nicht.Unter Drohungen und Liebesworten presste sie die Wahrheit aus mir heraus. Sie nahm mich in den Arm und beschwor mich, sie nie mehr zu belügen. Ich versprach es.
    Aber Willi war inzwischen stärker als die Mutter.
    Bisher hatte sie in ihren Briefen an Heinrich fast immer liebevoll und beruhigend über das Wohlergehen seiner Kinder und deren Fortschritte geschrieben. Hin und wieder berichtete sie von einem Fieberanfall und anderen Kinderkrankheiten. Aber ein rituell wiederkehrender Satz beschwor die Gesundheit, das blühende Aussehen der Kinder und die Freude, die sie ihr machten. Lange wollte sie nicht wahrhaben, dass Hanna und ich unter einen fremden Bann geraten waren. Erst in ihren letzten Briefen sprach sie davon, dass sie die Gewalt über uns verloren hatte, von dem schädlichen Einfluss des »Miststücks« Willi, von ihren verzweifelten Versuchen, uns zu sich zurückzuholen.
    Einmal zog sie Hanna, die in ihren Augen die Verantwortliche für unseren Ungehorsam war, in den Holzschuppen. Sie wollte ohne Zeugen mit ihr reden, sie zu einem Geständnis zwingen, von ihr hören, was Willi mit uns trieb. Sie umarmte ihre Tochter und sagte ihr, dass sie sie nicht bestrafen werde, sie drang in

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