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Die lieben Patienten!

Die lieben Patienten!

Titel: Die lieben Patienten! Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Tibber
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essen.«
    »Ich habe nicht gesagt, daß ich’s am Morgen nicht täte.«
    »Also gut, Mrs. Smith. Ziehen Sie sich aus, damit ich Sie untersuchen kann.«
    »Ich will nur ’ne Flasche für’n Magen.«
    »Ich kann Ihnen keine Medizin geben, ohne Sie zu untersuchen.«
    »Ich kann nicht...« Sie lächelte einfältig.
    Ich stand auf. »Dann kommen Sie also nächste Woche, damit wir finden, was Ihnen fehlt.«
    Mrs. Smith blieb sitzen. »Ja, aber kann ich meine Flasche haben?«
    »Wofür?«
    »Mein Magen. Behält nix drin.«
    Ich seufzte und schrieb ein Rezept.
    Der Zorn hatte mein Lächeln schon fast verzehrt, bis die nächste Patientin hereinkam. Seltsam genug, war ihr Name ebenfalls Smith. Es war ein Zufall, den ich häufig bemerkte. Wenn eine Smith kam, folgten ihr oft ein, zwei oder sogar drei in derselben Sprechstunde. Wenn mich eine Mrs. Brown aufsuchte, folgten ihr eine Mrs. Green, Mrs. Black und Mrs. White. Genauso war es bei den Besuchen. An dem Tag, an dem ich in die Nummer vierundzwanzig einer bestimmten Straße gerufen wurde, war es nicht ungewöhnlich, daß Nummer zweiundzwanzig und sechsundzwanzig, ganz unabhängig voneinander, das gleiche taten.
    Die zweite Mrs. Smith hielt sich für ebenso intelligent, wie die erste unwissend gewesen war. Sie zog ein kleines Kind mit sich herein, das sofort mein Mitgefühl hatte.
    »Hilary hat Ohrenschmerzen, Doktor, zum zweitenmal in dieser Woche, es wird nicht besser. Ich fürchte, es entwickelt sich zu einer Mittelohrentzündung, und ich mache mir große Sorge. Ich möchte eine Überweisung ins Krankenhaus haben.«
    »Komm her, Hilary«, sagte ich zu dem Kind, »und laß mich mal in dein Ohr sehen.«
    »Nun fang bloß nicht an zu weinen, Hilary«, redete Mrs. Smith auf das Kind ein, das gar keine Absicht gehabt hatte zu weinen. »Sei ein tapferes Mädchen. Es tut nicht sehr weh.«
    Laut sagte ich: »Es tut überhaupt nicht weh«, und im Innern murmelte ich grobe Worte gegen Mrs. Smith, weil sie das Kind so aufgeregt hatte, daß es jetzt doch vor Angst zu weinen begann.
    Durch das Geschrei hindurch hörte ich Mrs. Smith: »Ich weiß, daß man nicht vorsichtig genug mit den Ohren sein kann. Meine Nichte in Birmingham war sechs Monate lang mit einer verschleppten Mittelohrentzündung im Krankenhaus, und der Chirurg sagte: >Mrs. Stockbridge<, das ist meine Schwester, >wenn man das nur eher erkannt hätte...<«
    Ich reichte ihr die orangefarbene Perle, die ich aus Hilarys Ohr entfernt hatte.
    »Guten Morgen, Mr. Roach«, grüßte ich.
    »Eh?« Er legte die Hand hinter sein Ohr.
    »Nichts«, schrie ich. »Setzen Sie sich!«
    Nach dem dritten Patienten begann der morgendliche Schwung abzuflauen. Nach dem dreißigsten war es fast unmöglich, dem Patienten noch die gleiche Frische zu zeigen und ihm das Gefühl zu geben, daß er der einzige und alleinige Patient sei, mit dem ich es zu tun hatte. Aber das erwartete man von mir.
    Der Unterschied zwischen einem Geschäftsmann und einem Arzt war dieser: Im Geschäftsleben konnte man etwas hinausschieben, konnte Ausflüchte machen, keinem geschah deshalb ein Leid. In der Arztpraxis gab man in jeder Konsultation ein Stück von sich selbst; es ging gar nicht anders, wenn man dem Patienten helfen wollte. Dreißig kleine Stücke seines Selbst ergaben eine ganz schöne Abnutzung; hinzu kamen fünf bis fünfundzwanzig Besuche, bei denen man zusätzlich die körperliche Anspannung des Fahrens, Aus- und Einsteigens im Wagen, Auf- und Ablaufens der Treppen hatte; dann weitere zwanzig oder dreißig Konsultationen in der Abendsprechstunde, denen möglicherweise einige nächtliche Anrufe folgten. Es war nicht überraschend, daß ich zu dem Entschluß gekommen war, diesen Weg nicht mehr weiter zu verfolgen. Ich wartete auf die Ankunft meines Assistenten.
    Auf dem Wege nach Essex zum Besuch des Reverend Barker fiel mir wieder die gute Neuigkeit ein, die meinem Freund Faraday wichtig genug erschienen war, um uns mitten in der Nacht zu stören. Endlich hatte er also den Posten eines Chefarztes erreicht. Nachdem ich nun endlich Zeit zum Nachdenken hatte und mir die daraus entstehenden Folgerungen klarmachte, verstand ich seine Aufregung und verzieh es ihm, daß er in der gleichen Minute, da er es erfuhr, zum Telefon eilte. Es war schon etwas, über das man aus dem Häuschen geraten konnte. Faraday, mit dem ich zusammen studiert hatte, war genauso alt wie ich und mindestens zehnmal klüger, aber seit Jahren hatte er nun auf der vorletzten Sprosse der

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