Die lieben Patienten!
medizinischen Leiter gestanden, nicht etwa, weil er nicht die Fähigkeiten hatte, die Spitze zu erreichen, sondern weil es einfach nicht genug Chefarztposten gab für die sehnsüchtig ausgestreckten Hände der schwer arbeitenden, kümmerlich besoldeten Assistenzärzte. Faraday hatte seit Jahren gewartet, aber er war einer der Glücklicheren und noch jung für einen Chefarztposten. Er hatte die Spitze erreicht, und niemand hätte es mehr verdient. Ich lächelte in mich hinein, als ich mir Faraday hinter einem Schreibtisch in der Harley Street vorzustellen versuchte. Ich brachte es nicht recht fertig. Faraday war ein magerer, schmächtiger Bursche, der zehn Jahre jünger aussah, als er war, und jeden Augenblick auseinanderzufallen schien. Er wirkte hübsch in seiner beweglichen, liebenswürdigen Art und besaß ein jungenhaftes Lachen, das die Mädchen anzog. Jemanden, der einem Facharzt für Neurologie weniger ähnlich sah, konnte man sich kaum vorstellen. Er machte mehr den Eindruck eines verantwortungslosen jungen Mannes, der Schlagerplatten verkauft. Außer, daß ich einige Privatpatienten zu ihm zur Konsultation schickte, würde ich ihm sicher manchen guten Rat geben müssen.
Während ich an Faraday dachte, betrachtete ich auch meine eigene Karriere. Ursprünglich hatte ich die Niederlassung als praktischer Arzt gewählt, um genug Geld zu verdienen, damit ich Sylvia heiraten konnte, aber schon seit Jahren wußte ich, daß dies der einzig richtige Posten für mich war. Mir hätte der Junggesellenstand, in dem allein man diese Zeit überstehen konnte, nicht behagt, und ebensowenig würde es mir liegen, von einem Krankenhaus zum andern zu wandern, wie Faraday es getan hatte. Ich war mir der dahineilenden Jahre zu sehr bewußt und wünschte zu vieles allzu schnell. Und es war nicht nur die materielle Seite; ich war mir klar, und das hatte nichts mit Einbildung zu tun, daß das weite Gebiet des Hausarztes der Art und Weise, wie mein Geist arbeitet, am meisten entsprach. Es fiel mir leicht, die Dinge wie auf einer großen Leinwand zu sehen, alle Möglichkeiten in Betracht zu ziehen, die äußerlichen Einflüsse und die Familiengeschichte, den angeborenen Verstand und das bißchen Intelligenz, das ich vielleicht besaß, richtig anzuwenden, unter Hinzufügung der Medizinkenntnisse, die ich erlernt und mir im Laufe der Jahre erworben hatte, und dann eine Diagnose zu stellen. Es war mir eine Hilfe dabei, daß mich die Menschen interessierten. Nach acht Jahren, in deren Verlauf ich viele hundert Patienten behandelt hatte, stellte ich in der ersten Sekunde fest, wer die Wahrheit sagte und wer nicht, wer krank war und wer es sich nur einbildete, wem ich helfen konnte und wem nicht. Diese Studien waren interessant, und ich nehme an, daß dies die Antwort auf die mir selbst gestellte Frage >Was wünschte ich mir?< war. Ich wünschte mir nur mehr Zeit, um besser praktizieren zu können. Diese Massenabfertigung, zu der ich jetzt gezwungen war, lag mir gar nicht und war auch bestimmt nicht im Interesse der Patienten. Ich bildete mir ein, daß jetzt eine Unzahl von Assistenten damit beschäftigt sein würde, einen Antwortbrief auf mein Inserat zu schreiben.
Reverend Barkers Zustand schien sich leicht gebessert zu haben. Er lag aufgestützt im Bett und lächelte, als ich hereinkam.
»Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie leid es mir tut, daß ich Sie letzte Nacht aus dem Bett holen mußte«, begann er ruhig. »Es ist so ein langer Weg für Sie.«
»Das gehört zu meinem Beruf«, beruhigte ich ihn, während ich seinen Blutdruck maß, »man gewöhnt sich daran.« Ich hoffte, daß es überzeugend klang, denn natürlich stimmte es nicht. Und wenn es noch so oft geschah - und leider war es allzu oft -, würde ich mich nie daran gewöhnen, daß man mich mitten in der Nacht aus dem Bett holte. Jedesmal war es erneut die gleiche Anstrengung und Qual für mich wie beim allerersten Mal.
Als ich meine Untersuchung beendet hatte, hob Reverend Barker eine Augenbraue und blickte mich an. »Gibt’s noch einen Gnadentag?«
Ich wandte mich ab, um meine Sachen in die Tasche zurückzulegen. »Ich hoffe, es wird noch sehr viele geben.«
»Alles, was einem vorher wertvoll erschien, bekommt jetzt doppelten Wert.« Er blickte aus dem Fenster. »Die Bäume mit ihren kahlen Zweigen, die auf den Frühling warten, die Sonne, die Vögel, der Regen. Die Geräusche, wenn die Kinder morgens aufstehen, die vertrauten Schritte der Frau auf der Treppe, die Art,
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