Die Liebenden von Leningrad
herrschte Schweigen.
Tatiana stand da wie erstarrt. Sie blickte Dimitri an. »Nicht mal zum Streiten ist man hier allein«, sagte sie und glitt zu Boden.
Dimitri hob sie auf und setzte sie auf das Sofa im Flur. Er wischte ihr das Gesicht ab und tätschelte ihr den Rücken. »Geht es dir gut?«, fragte er immer wieder. Die Sarkows klopften an die Tür und erkundigten sich, ob alles in Ordnung sei. Ein Streit in der Gemeinschaftswohnung konnte nicht verborgen bleiben.
»Es ist alles in Ordnung!«, beteuerte Tatiana. »Nur ein kleiner Streit.«
Dascha trat aus dem Zimmer und entschuldigte sich mürrisch bei Tatiana. Dann ging sie wieder zu Alexander hinein und schloss die Tür hinter sich. Tatiana bat Dimitri zu gehen und humpelte dann auf das Dach hinauf.
Nach einer Weile gesellte sich Alexander zu ihr. Tatiana unterhielt sich gerade mit Anton und tat so, als bemerke sie Alexander nicht. Anton machte Tatiana auf ihn aufmerksam. Seufzend wandte sie sich Alexander zu. »Was ist los?«, fragte sie unglücklich.
»Gib mir deine Hand!«, flüsterte er. »Nein!«
»Gib mir deine Hand!«
Laut sagte sie: »Anton, du erinnerst dich doch sicher an Daschas Freund Alexander? Gib ihm die Hand!« Anton gehorchte. Alexander bat ihn, sie für einen Moment allein zu lassen.
Zögernd rückte Anton ein Stück zur Seite, blieb aber immer noch so nahe, dass er alles hören konnte.
»Komm, wir setzen uns dort drüben hin!«, schlug Alexander vor.
»Es fällt mir noch schwer zu laufen. Ich sitze hier ganz gut.« Ohne ein weiteres Wort hob Alexander Tatiana hoch und ging mit ihr auf die gegenüberliegende Seite des Daches, wo sie ungestört waren, »Reich mir deine Hände, Tania!«
Unwillig folgte Tatiana. Ihre Hände zitterten. »Geht es dir wieder gut?«, fragte er leise. »Kommt es oft vor, dass Dascha dich schlägt?«
»Es geht mir gut. Und es kommt ab und zu vor.« Sie schüttelte den Kopf. »Warum hast du mir geholfen?« »Ich werde nie zulassen, dass dir jemand etwas antut«, erwiderte er.
»Aber was hat es gebracht? Jetzt sind alle wütend auf mich. Ich bin für sie der Abschaum!«
Alexander blickte sie voller Liebe und Mitgefühl an. »Ich lasse es nicht zu, dass sie dir wehtun. Mir ist es egal, ob Dascha das mit uns herausfindet oder ob Dimitri ...«Er brach ab und fuhr so leise fort, dass Tatiana ihn kaum verstand: »Mir ist es egal, ob alle mit dem Finger auf uns zeigen.« Er blickte sie prüfend an. »Und das weißt du auch.« »Ach, was verstehst du schon davon?«, fragte Tatiana leise. »Hier in Russland schlagen Eltern eben ihre Kinder und die Kinder nehmen es hin. Große Schwestern schlagen ihre kleinen Schwestern und die kleinen Schwestern akzeptieren das. So ist es eben.«
»Ich verstehe«, sagte Alexander. »Aber du bist so ... schutzlos! Dein Vater trinkt zu viel und das macht ihn launisch. Du musst sehr vorsichtig sein, wenn er in der Nähe ist!« Alexanders Hände waren warm und beruhigend. Tatiana schloss die Augen und dachte auf einmal nur noch an eins. Mit einem stummen Schrei öffnete sie die Lippen. »Liebste Tania, tu das nicht«, sagte Alexander und drückte ihre Hände fester.
»Shura, ich weiß nicht, was ich machen soll! Ich fühle mich so verloren ...«, klagte Tatiana.
Plötzlich zog Alexander seine Hände fort und verdrehte die Augen. Dascha kam die Treppe hoch.
Sie blieb bei ihnen stehen und sagte: »Ich wollte nach meiner Schwester sehen. Ich wusste nicht, dass du noch hier bist. Du hast behauptet, du müsstest gehen!«
»Ich muss jetzt auch gehen«, erwiderte Alexander und erhob sich. Er gab Dascha einen raschen Kuss auf die Wange. »Wir sehen uns bald. Und du, Tania, lass deine Nase untersuchen! Vergewissere dich, dass sie nicht gebrochen ist!« Tatiana nickte kaum merklich.
Als er gegangen war, setzte sich Dascha neben sie. »Was wollte er?«
»Nichts Besonderes. Er wollte nur wissen, ob es mir gut geht.« Auf einmal verspürte Tatiana das Bedürfnis, Dascha auf der Stelle alles zu erzählen, doch bevor sie dem nachgeben konnte, sagte sie: »Weißt du was, Dascha? Du bist meine Schwester und ich liebe dich. Morgen früh wird wieder alles in Ordnung sein. Manchmal denke ich zwar, dass ich viel zu oft nachgebe, aber so ist es nun mal. Ab morgen will ich das auch gern wieder tun, aber jetzt im Moment möchte ich nicht mit dir reden. Ich möchte einfach nur allein sein und nachdenken.« Tatiana schwieg und fügte nach einer Weile mit Nachdruck hinzu: »Also, bitte, Dascha, geh
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