Die Liebenden von Leningrad
jetzt!«
Dascha rührte sich nicht. »Es tut mir Leid, Tania, wirklich. Aber du hättest zu Papa und Mama nicht so unverschämt sein dürfen! Du weißt doch, wie traurig sie wegen Pascha sind und dass sie sich Vorwürfe machen!«
»Dascha, ich will deine verlogenen Entschuldigungen nicht hören!«
»Was ist nur in dich gefahren?«, fragte Dascha. »Du hast doch sonst nie so geredet!« »Bitte, Dascha, geh endlich!«
Tatiana saß bis zum Morgen auf dem Dach. Ihre Beine und ihr Gesicht waren eiskalt.
Es erstaunte sie, dass die Nähe zu Alexander noch immer so groß war. Und das, obwohl sie kaum Gelegenheit gehabt hatten, ungestört miteinander zu reden. Er war so distanziert gewesen und es waren bittere Worte zwischen ihnen gefallen. Und doch zweifelte sie keinen Moment daran, dass er immer für sie da war. Diese Überzeugung hatte ihr auch die Kraft gegeben, Papa die Meinung zu sagen.
Dimitri, der seine Gefühle für Tatiana ständig zur Schau stellte, hatte in dieser Situation untätig dagesessen, aber das hatte sie nicht überrascht. Er war feige.
Tatiana wusste genau, dass sie zu Alexander gehörte. Warum versuchte sie bloß mit aller Macht, ihre Gefühle zu unterdrücken?
Anfangs hatte sie geglaubt, sie könne sich Alexander aus dem Herzen reißen, sie könne ihr Leben auch ohne ihn fortführen. Aber sie war eines Besseren belehrt worden. Das war keine vorübergehende Verliebtheit. Tatiana war sicher: Sie und Alexander waren füreinander bestimmt.
Als Alexander sein Quartier betrat, stellte er befremdet fest, dass Dimitri in seinem Bett lag.
»Was ist los?«, fragte Alexander müde.
»Das wollte ich von dir wissen«, erwiderte Dimitri.
»Haben wir uns nicht gerade erst gesehen? Ich möchte jetzt schlafen. Ich muss morgen früh um fünf Uhr aufstehen.« »Dann komme ich direkt auf den Punkt«, erklärte Dimitri und sprang aus der Koje. »Ich möchte nicht, dass du mit meinem Mädchen flirtest!« »Wovon redest du?«
»Kann ich nicht wenigstens eine Sache für mich allein haben? Du führst doch ein gutes Leben, oder nicht? Du bist Leutnant in der Roten Armee. Du befehligst eine Kompanie von Männern, die dir ergeben sind. Ich bin nicht in deiner Kompanie ...«
»Nein, aber in meiner, Gefreiter«, sagte Anatoli Marasow und sprang aus der Koje, die neben Alexanders lag. »Es ist schon spät und wir haben morgen alle einen langen Tag vor uns. Sie sollten hier nicht so herumschreien. Es ist ohnehin eine Ausnahme, dass Sie sich hier aufhalten dürfen.« Dimitri salutierte. Alexander stand schweigend daneben. »Stillgestanden, Gefreiter!«, befahl Marasow und baute sich vor Dimitri auf. »Als Sie hierher kamen, dachte ich, Sie wollten sich nur ein wenig ausruhen und auf Ihren Freund warten.« »Es geht nur um eine Kleinigkeit zwischen mir und dem Leutnant«, sagte Dimitri.
»Es ist nur dann eine Kleinigkeit, Gefreiter, wenn ich dafür nicht aus meinem dringend benötigten Schlaf geweckt werde. Und jetzt, stehen Sie bequem!« Marasow schritt nur mit einer langen Unterhose bekleidet vor Dimitri auf und ab und fragte: »Kann das nicht bis morgen warten?«
Alexander warf ein: »Leutnant, gewähren Sie uns noch ein paar Minuten?«
Marasow unterdrückte ein Lächeln und neigte den Kopf. »Wie Sie wünschen, Leutnant.« »Wir gehen auf den Flur.«
Sie traten auf den Korridor und Alexander schloss die Tür hinter sich. »Dima, du bringst dich noch in Schwierigkeiten. Was ist dein Problem?«
»Das weißt du genau! Du bist wohl unersättlich!«, zischte Dimitri. »Du kannst doch jedes Mädchen auf der Welt haben. Warum willst du unbedingt meins?«
Alexander wandte all seine Kraft auf, um Dimitri nicht dieselbe Frage zu stellen. »Ich habe keine Ahnung, wovon du redest. Ich habe ihr nur geholfen.«
Dimitri fuhr fort: »Ich bin bloß ein einfacher Soldat. Ich befolge Befehle und wühle im Dreck. Sie ist die Einzige, die mich wie ein menschliches Wesen behandelt.«
Sie behandelt alle so, das hat nichts mit dir zu tun, dachte Alexander insgeheim. Laut entgegnete er: »Aber Dima, du bist am Leben! Denk doch nur daran, was dir erspart geblieben ist! Man hat dich nicht in den Süden geschickt, wo unsere Männer von den Deutschen massakriert worden sind. Marasows Einheit bleibt so lange hier, bis die deutschen Truppen die Stadt erreicht haben. Dafür habe ich gesorgt. Um dir zu helfen!« Er schwieg. »Weil ich dein Freund bin. Ich bin doch immer gut zu dir gewesen. Was ist nur mit unserer Freundschaft passiert?«
Weitere Kostenlose Bücher