Die Liebenden von Leningrad
schon!«, drängelte Tatiana und zog Marina und Dascha die Decke weg. »Ihr könnt ruhig einmal früh aufstehen.« Die Mädchen rührten sich nicht.
Unwillkürlich musste sie an Alexander denken. Vielleicht war er ja in Leningrad und kam heute Abend vorbei. Sie sehnte sich danach, mit ihm zu reden, ihm ihre Sorgen mitzuteilen. Eigentlich gab es sonst niemanden, der ihr zuhörte. Alle schienen nur ihren eigenen Gedanken nachzuhängen. Tatiana knöpfte sich den Mantel zu und eilte über die Nekrasowa zu dem Geschäft, um noch mehr Lebensmittel zu erstehen. Alexander kam am Abend tatsächlich zu Besuch. Er brachte seine Lebensmittelrationen und einen äußerst schlecht gelaunten Dimitri mit. Dicht gedrängt saßen alle in dem kleinen Zimmer. Tatiana ging in die Küche und begann, ein Abendessen aus Bohnen und Reis zuzubereiten. Alexander folgte ihr und ihr Herz schlug schneller. Aber dann betraten auch Zhanna Sarkowa und Petr Petrow den Raum, und schließlich kamen Dascha und Marina, um ihr zu helfen. Alexander ging wieder hinaus, ohne ein Wort mit Tatiana gewechselt zu haben. Während des Abendessens richtete sie zwar einige Fragen an Alexander, aber in Wahrheit brannten ihr ganz andere Dinge auf der Seele. Sie vermied es, ihn anzusehen. Konzentriert blickte sie auf ihren Teller.
Bei der Unterhaltung drehte sich alles darum, wie schlecht die sowjetische Armee ausgerüstet war. Alexander setzte ihnen auseinander, dass es unmöglich für sie war, das Land gegen die Deutschen zu verteidigen.
»Vor zwei Tagen stand mein Bataillon an der oberen Newa, direkt bei Schlüsselburg, um Schützengräben auszuheben. Alles, was wir tun konnten, war, ein paar Mörsergeschütze aufzustellen.« Er senkte die Stimme. »Selbst der allgegenwärtige NKWD war dort kaum vertreten.«
»Sie können doch nicht überall zugleich sein«, bemerkte Tatiana. »Sie haben so viele Einsätze - als Grenztruppen, als Fabrikwachen bei Kirow, als Straßenmiliz ...« Tatiana und Alexander lächelten einander verstohlen zu. Ihr Wunsch, ihn zu berühren, wurde übermächtig. Sie erhob sich und begann, den Tisch abzuräumen. Als sie neben ihn trat, drückte sie einen Moment lang ihre Hüfte an seinen Ellbogen urid ging dann rasch weiter.
»Wenn die Deutschen in den ersten beiden Septemberwochen angegriffen hätten, dann hätten sie den Sieg in der Tasche gehabt«, fuhr Alexander fort. »Wir hatten ja weder Panzer noch Geschütze. Nur ein paar kaum bewaffnete Freiwillige standen zur Verfügung.« Er schwieg. »Wie gut ausgebildet waren eigentlich die Freiwilligen in Luga, Tania? Wie wir wissen, besitzt ja nicht jeder während einer Bombardierung so viel Geistesgegenwart wie Tania.«
Dascha unterbrach ihn: »Warum redest du eigentlich mit ihr über den Krieg? Sie interessiert sich doch gar nicht dafür. Sie hat nur die Gedichte von Puschkin im Kopf oder macht sich Gedanken übers Kochen.«
Mit ernstem Gesicht sagte Alexander: »Tania, wie sieht es aus? Wollen wir uns über Puschkin unterhalten?« Verlegen erwiderte Tatiana: »Warte mal! Da wir gerade vom Kochen oder vielmehr vom Essen reden: Welcher Laden liegt für mich am günstigsten? Ganz gleich, wo ich hingehe, um unsere Rationen abzuholen, überall bin ich dem Bombenhagel ausgesetzt. Ich ... habe solche Angst...«
»Am besten gehst du nirgendwohin. Bleib im Luftschutzkeller, da bist du sicher«, riet Alexander. Niemand sagte ein Wort.
»Ich möchte ja nur wissen, von wo aus die Stadt am heftigsten beschossen wird«, fuhr Tatiana hastig fort, damit Dascha nicht wieder dazwischenreden konnte.
»Aus den Hügeln von Pulkowo«, erwiderte Alexander. »Die Deutschen brauchen noch nicht einmal in ihre Flugzeuge zu steigen. Ist dir nicht aufgefallen, dass wir vergleichsweise wenige Flugzeuge sehen?«
»Nein, heute Nacht waren es ungefähr hundert.« »Ja, nachts fliegen sie, weil es da schwieriger für uns ist, ihre Flugzeuge abzuschießen. Aber sie wollen ihre kostbare Luftwaffe nicht vergeuden. Sie sitzen bequem in den Hügeln von Pulkowo und ihre Bomben reichen bis nach Smonyj. Du weißt doch, wo Pulkowo ist, oder, Tania? Direkt bei Kirow.« Sie errötete. Er musste damit aufhören. Nein, er sollte nicht aufhören. Sie brauchte diese Worte wie die Luft zum Atmen. Mama, die gerade aus der Küche kam, sagte: »Na ja, zum Glück arbeitest du nicht mehr bei Kirow, Taneschka.« Alexander schlug vor, Tatiana solle wegen ihrer Rationen nicht mehr zum Suworowskij Prospekt gehen. Tatiana beteuerte: »Ich gehe
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