Die Liebenden von Leningrad
Marinas mitfühlendem Blick. Sie drehte sich wieder ihrer lächelnden Schwester zu. »Herzlichen Glückwunsch! Du musst sehr glücklich sein!« »Glücklich? Ich bin wie im Rausch! Kannst du dir das vorstellen? Ich werde Dascha Belowa!« Sie kicherte. »Sobald er ein paar Tage freibekommt, gehen wir aufs Standesamt.« »Hast du gar keine Angst?« Tatiana hielt die Augen geschlossen. »Aber nein«, winkte Dascha ab. »Weshalb denn?« »Es freut mich, dass du dir so sicher bist.« »Was ist denn los?« Dascha legte ihrer Schwester den Arm um die Schultern. Tatiana konnte Daschas Nähe kaum noch aushalten. »Keine Sorge, ich werde dich nicht aus deinem Bett vertreiben. Babuschka gibt uns für ein paar Tage ihr Zimmer.« Dascha küsste sie. »Ich heirate, Tania! Kannst du dir das vorstellen?«
»Nein, ich kann es kaum glauben.«
»Ich weiß!«, rief Dascha aufgeregt aus. »Ich kann es ja selbst kaum fassen.«
»Es ist Krieg. Er könnte sterben, Dascha.« »Glaubst du, das wäre mir nicht auch klar? Jetzt hör bloß auf, über den Tod zu reden! Glücklicherweise ist er ja nicht mehr in Dubrowka, sondern in Schlüsselburg. Da ist es nicht so gefährlich.« Dascha lächelte. »Weißt du, im Moment brauche ich nur die Augen zu schließen und dann spüre ich, dass er noch am Leben ist. Ich habe nämlich einen sechsten Sinn«, fügte sie stolz hinzu. Marina hustete laut. Tatiana öffnete die Augen und blickte Marina finster an, so dass sie sofort verstummte. »Was willst du, Dasch?«, flüsterte sie. »Willst du lieber eine Witwe sein als nur die Freundin eines toten Soldaten?« »Tania!«
Tatiana schwieg. Niemand aus ihrer Familie konnte ihr Trost spenden und Alexander nun auch nicht mehr. Sie vermochte nicht länger still zu sitzen. Noch während des Luftangriffs verließ sie den Luftschutzkeller und hörte Daschas verwirrte Stimme, die fragte: »Was ist denn los mit ihr?«
Am nächsten Morgen stand Tatiana spät auf. Statt wie sonst im Laden an der Fontanka einzukaufen, ging sie zu einem Geschäft am Newskij Prospekt, in der Nähe ihrer alten Schule. Sie hatte gehört, dort solle es Brot geben. Die Sirene heulte, aber sie kümmerte sich nicht darum.
Mit gesenktem Kopf lief sie die Straße entlang. Das Pfeifen der Bomben, die Explosionen und die Schreie der verängstigten Menschen berührten sie nicht. Sie war so aufgewühlt, dass sie die Geschehnisse in der Umgebung nicht wirklich wahrnahm. Der Krieg machte ihr keine Angst mehr, aber sie fürchtete sich vor einer Zukunft ohne Alexander.
Sie ging zur Arbeit, und als es fünf Uhr war und sie eigentlich Feierabend hatte, beschloss sie, an diesem Tag länger zu bleiben. Um acht Uhr abends putzte sie gerade die Böden auf der Station, als sie Marina auf sich zukommen sah. »Tania, was tust du noch hier?«, fragte Marina. »Alle machen sich schreckliche Sorgen um dich. Wir haben schon gedacht, dir sei etwas zugestoßen.« »Ich lebe noch«, erwiderte Tatiana.
»Du bist jetzt schon drei Stunden überfällig. Warum kommst du nicht nach Hause?«
»Ich putze gerade, Marina, siehst du das nicht? Geh mir aus dem Weg, sonst bekommst du nasse Schuhe!« Tatiana blickte stur zu Boden.
»Tania, alle warten auf dich! Dimitri ist da und auch Alexander. Sei doch nicht so egoistisch! Wir können Daschas Verlobung nicht feiern, wenn du nicht da bist.« »Hör zu«, erwiderte Tatiana mit zusammengebissenen Zähnen. »Du hast mich ja wohlbehalten gefunden. Sag den anderen, sie brauchen sich keine Sorgen zu machen. Ihr könnt gern feiern. Ich muss arbeiten. Ich mache heute eine Doppelschicht und komme erst später nach Hause.«
»Tania«, drängte Marina. »Komm doch mit! Ich weiß, dass es schwer für dich ist. Aber du musst nach Hause gehen und ein Glas auf deine Schwester trinken.«
»Ich arbeite!«, schrie Tatiana. »Würdest du mich jetzt bitte in Ruhe lassen?« Tränenblind starrte sie auf ihren Putzlappen. »Tania, bitte!«
»Lass mich in Ruhe!«, wiederholte Tatiana. Zögernd verließ Marina die Station.
Tatiana wischte den Flur, die Badezimmer und einige Patientenzimmer. Dann bat ein Arzt sie, ihm beim Verbinden der Wunden der Bombenopfer zu helfen. Vier der fünf Verletzten starben innerhalb einer Stunde und Tatiana saß schließlich bei dem letzten am Bett, einem alten Mann. Sie hielt seine Hand. Er lächelte sie dankbar an.
Als sie in der Nacht nach Hause kam, schliefen die anderen alle schon.
Tatiana legte sich auf das kleine Sofa im Flur. Am nächsten Morgen stand sie
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