Die Liebenden von Leningrad
Feldzugs?«
»Ich habe gegen die Finnen gekämpft«, antwortete er grimmig. Tatiana fragte sich, warum Dascha den Krieg nie beim Namen nannte.
Sie sagte immerzu Feldzug oder Konflikt.
Mit dieser Ausdrucksweise hätte sie für den Rundfunk arbeiten können ...
»Ich sage es euch noch einmal: Haltet eure Vorräte fest, als ob sie euer wertvollstes Gut wären!«, wies Alexander sie an. »Warum musst du immer so pessimistisch sein?«, maulte Dascha. »Wo bleibt dein Sinn für Humor? Gerade in solchen Zeiten haben wir den nötig. Wir werden schon nicht verhungern. Die Regierung wird irgendwie Lebensmittel beschaffen.« Alexander zündete sich eine Zigarette an. »Dascha, tu mir einen Gefallen, beherzige meinen Rat!«
»Na gut, Liebster. Ich gebe dir mein Wort darauf.« Sie küsste ihn.
Alexander wandte sich an Tatiana. »Und du auch, Tania!« »In Ordnung.« Liebster, dachte sie bei sich. »Ich verspreche es dir.«
»Alexander, wie lange wurde London im Sommer 1940 bombardiert?«, erkundigte sich Dascha. »Vierzig Tage und Nächte.« »Glaubst du, hier wird es auch so lange dauern?« Diese Frage hatte auch Tatiana beschäftigt. Gebannt lauschte sie Alexanders Worten.
»Länger«, erwiderte er knapp. »Die Bombardierung wird so lange dauern, bis sich Leningrad entweder ergibt oder fällt. Oder die Nazis zurückdrängt.«
»Wir sollten uns auf keinen Fall ergeben!«, befand Dascha. »Ich kämpfe gegen die Nazis, wenn es sein muss.« Tatiana musste unwillkürlich lachen. Wie vermeintlich tapfer Dascha daherredete ... Als habe sie nicht in Wahrheit die schlimmsten Ängste vor einer solchen Eskalation. Kopfschüttelnd erwiderte Alexander: »Du wirst nicht gegen sie kämpfen, Dascha. Ein Straßenkrieg ist entsetzlich, und zwar nicht nur für die Belagerten, sondern auch für die Angreifer. Ungeheuer viele Menschen verlieren ihr Leben. Unser großer Führer mag kein besonderes Interesse an dem einzelnen Menschen haben, aber Hitler ist ganz besessen davon, die arische Rasse zu erhalten. Ich glaube nicht, dass er seine Männer für Leningrad opfern wird.« Er blickte Tatiana an. »Ich glaube, Dimas Wunsch wird letztendlich in Erfüllung gehen«, schloss er mit kaum verhohlener Verachtung.
Tatiana sah Dimitri an. Er lag inzwischen sturzbetrunken auf dem Sofa und schlief.
»Wird es so ähnlich wie in London verlaufen?«, fragte Dascha und warf ihre Locken zurück. »London ist zwar bombardiert worden, aber die Leute haben trotzdem so gut es ging weitergelebt. Wir haben Bilder gesehen.« Sie lächelte Alexander an und streichelte ihm übers Bein.
»Dascha, du lebst hier ; nicht in London!«, wies Alexander sie zurecht und schüttelte den Kopf. Dascha verzog missmutig das Gesicht.
»Außerdem drohte London keine Belagerung! Verstehst du denn nicht den Unterschied?«
Mama, Dascha, Marina und Babuschka hingen an Alexanders Lippen. Tatiana hatte sich erhoben, um das schmutzige Geschirr abzuräumen. Sie sagte: »Die Deutschen haben uns eingekreist. Und du hast es ja gehört: Sie werden nicht das Leben ihrer eigenen Leute aufs Spiel setzen. Sie werden uns aushungern, nicht wahr, Alexander?«
»Für heute Abend reicht es! Jedenfalls dürft ihr eure Vorräte auf keinen Fall weggeben!«, entgegnete Alexander unwirsch. Mama hakte nach: »Alexander, eins muss ich noch wissen: Stehen die Deutschen wirklich schon bei Peterhof?« »Weißt du noch, wie wir in Peterhof waren, Liebling?«, murmelte Dascha und ergriff seine Hand. »Das war so ein schöner Tag! Es war der letzte sorglose Tag, den wir miteinander verbracht haben!«
»Ja«, bestätigte Alexander, ohne Tatiana anzusehen.
»Seit diesem Tag ist nichts mehr so, wie es einmal war«, sagte Dascha traurig.
Alexander wandte sich an Mama und erklärte: »Peterhof ist tatsächlich in deutscher Hand. Die deutschen Soldaten haben die Teppiche aus dem Palast geholt und legen ihre Schützengräben damit aus.«
»Vielleicht hat Dimitri ja Recht«, überlegte Dascha. »Es leben ungefähr drei Millionen Menschen in Leningrad. Die kann man doch nicht alle opfern!« Sie schwieg. »Hat der Befehlshaber von Leningrad schon einmal davon gesprochen, sich zu ergeben?«
Alexander musterte Dascha schweigend. »Ich meine, wenn wir uns ergeben ...«
»Ja, was dann?«, unterbrach Alexander sie gereizt. »Dascha, hast du gelesen, was die Deutschen mit der ukrainischen Landbevölkerung gemacht haben?« »Nein, ich will darüber gar nichts hören!« »Aber ich habe es gelesen ...«, sagte Tatiana
Weitere Kostenlose Bücher