Die Liebenden von Leningrad
leise. Alexander fuhr fort: »Dimitri hielt es eine Zeit lang für eine gute Sache, Kriegsgefangener in einem deutschen Lager zu sein. Bis er erfuhr, dass die Deutschen die Gefangenen erschießen, die Orte plündern und niederbrennen, das Vieh abschlachten und die Frauen und Kinder umbringen.« »Zuerst machen sie aber mit den Frauen etwas anderes«, warf Tatiana ein. Dascha und Alexander blickten sie fassungslos an.
»Vielleicht solltest du nicht alles glauben, was du hörst, Tania«, fügte Alexander leise hinzu.
Dascha fragte: »Wie kommen denn nun in Zukunft Lebensmittel nach Leningrad?«
»Wir haben doch erst mal genug. Wir haben so viele Vorräte!«, schaltete Mama sich ein.
»Ach, Mama, wer weiß, wie lange die Blockade dauern wird? Ich glaube, ich bin Dimitris Meinung. Wir sollten uns ergeben ...«
Alexander schüttelte traurig den Kopf und blickte Tatiana an. »Nein!«, beharrte er. »Nicht wahr, Tatiana? ... Wir werden nicht wanken und weichen. Wir werden den Weg bis zu Ende gehen ... Wir werden auf den Meeren und Ozeanen kämpfen ... In der Luft werden wir unsere Insel verteidigen, koste es, was es wolle.«
» Wir werden an den Stränden kämpfen«, fuhr Tatiana fort und blickte dabei Alexander direkt an. »Wir werden auf den Feldern und in den Straßen kämpfen ... Wir werden in den Hügeln kämpfen.« Ihr Hals war wie zugeschnürt. » Wir werden uns nie ergeben«, schloss sie. Sie merkte, dass ihre Hände zitterten. »Churchill.«
Mit einem ungeduldigen Seufzer fragte Dascha: »Kannst du uns vielleicht noch einen Tee kochen und für einen Moment Churchill vergessen?«
Marina folgte Tatiana in die Küche, um ihr beim Aufräumen zu helfen, und flüsterte: »Ich habe noch nie in meinem Leben jemand Dümmeren und Starrköpfigeren getroffen als deine Schwester.«
Tatiana war ganz blass geworden und schwieg.
Ein paar Tage später inspizierten Dascha und Tatiana die Vorräte. Die meisten hatte Tatiana mit Alexanders Hilfe am ersten Tag des Krieges gekauft.
Das schien schon eine Ewigkeit her zu sein. Tatiana kam es vor, als hätte sich ihr Leben seitdem vollständig verändert. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt besaßen die Metanows noch dreiundvierzig Kilo Schinken, neun Dosen eingemachte Tomaten und sieben Flaschen Wodka. Entsetzt stellte Tatiana fest, dass noch vor einer Woche elf Flaschen Wodka im Schrank gestanden hatten. Offensichtlich trank Papa mehr, als sie alle wussten.
Des Weiteren besaßen sie zwei Kilo Kaffee, vier Kilo Tee und einen großen Sack mit zehn Kilo Zucker, der in dreißig kleinere Plastiksäcke aufgeteilt war. Tatiana zählte zudem fünfzehn kleine Dosen mit geräucherten Sardinen, und dann waren da noch mehrere Säcke Gerste, Hafer und Mehl und die vielen Packungen Streichhölzer.
»Wie lang muss das Ganze wohl reichen?«, überlegte Dascha laut.
»Alexander hat gesagt, dass man es nicht weiß«, erwiderte Tatiana.
Laut Mamas Auskunft besaßen sie neunhundert Rubel in bar, genug also, um Lebensmittel auf dem Schwarzmarkt zu kaufen. »Lass uns gleich welche kaufen gehen, Mama«, schlug Tatiana vor.
Die Schwestern suchten mit ihrer Mutter einen großen Laden auf, der im August in der Nähe der Nikolaus-Marine-Kathedrale eröffnet hatte. Sie brauchten über eine Stunde, um dort hinzugelangen, und dann starrten sie ungläubig auf die Preise, mit denen die wenigen Produkte in den Regalen ausgezeichnet waren. Es gab Eier, Käse, Butter und Schinken und sogar Kaviar. Der Zucker kostete siebzehn Rubel pro Kilo. Mama strebte sofort wieder dem Ausgang zu, aber Tatiana ergriff ihren Arm. »Hör zu, Mama! Wir sollten die Lebensmittel kaufen!« »Lass mich los!«, erwiderte Mama grob. »Für wie dumm hältst du mich, dass ich ein Kilo Zucker für siebzehn Rubel kaufe? Sieh dir den Käse an - zehn Rubel für hundert Gramm! Das kann doch nicht wahr sein!« Laut rief sie an den Verkäufer gewandt: »Wollen Sie uns auf den Arm nehmen? Deshalb gibt es hier keine Schlangen vor dem Laden wie in anderen Geschäften! Wer kauft denn schon Lebensmittel zu diesen Preisen!« Der junge Mann schüttelte lächelnd den Kopf. »Kauft etwas oder verlasst das Geschäft!« »Wir gehen«, beschloss Mama. »Kommt!« Aber Tatiana rührte sich nicht von der Stelle. »Mama, hast du vergessen, was Alexander gesagt hat?« Sie zog das Geld hervor, das sie von ihrem Verdienst bei Kirow und im Krankenhaus gespart hatte. Viel war es nicht. Sie bekam momentan nur zwanzig Rubel in der Woche und zehn davon gab sie zu Hause
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