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Die Liebenden von Leningrad

Die Liebenden von Leningrad

Titel: Die Liebenden von Leningrad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paullina Simons
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gegen die Wand gedrückt. Dabei hat er geflucht und geschrien und dann ist er hinausgerannt. Ich hatte Angst, er bringt ihn um. Kannst du dir das vorstellen?«
    »Ja«, flüsterte Tatiana. Alexander trug überall seinen eigenen Vater mit sich. Er trug seinen Vater, seine Mutter, seine Vergangenheit mit durchs Leben.
    Tatiana war der einzige Mensch auf der ganzen Welt, dem er vertraute, und deshalb trug er auch noch an ihrem Kreuz. Einen Moment lang versetzte Tatiana sich in Alexanders Lage und ihr Zorn auf ihn ließ nach.
    »Ist Papa einfach so ohnmächtig geworden?«, fragte Tatiana und setzte sich auf das Sofa.
    »Nein, ich glaube, aus Angst. Tania, Alexander hat wirklich so ausgesehen, als ob er ihn umbringen wollte!« »Das kann ich mir vorstellen«, erwiderte Tatiana. »Oh, Tania«, flüsterte Marina, »Tania, was wollt ihr beiden nur tun?«
    »Ich weiß nicht, wovon du redest«, erwiderte Tatiana. »Ich werde jetzt versuchen, Papa zu helfen.« Doch Papa blieb bewusstlos und die Metanows machten sich große Sorgen. Mama schlug vor, dass sie ihn vielleicht wirklich für ein paar Tage ins Krankenhaus bringen sollten, damit er wieder nüchtern wurde. Tatiana hielt das für eine sehr gute Idee. Papa war schon lange nicht mehr nüchtern gewesen. Sie bat Petr Petrow, ihnen dabei zu helfen, Papa auf die Ausnüchterungsstation des Suworowskij-Krankenhauses zu bringen. Im Grecheskij, wo Tatiana arbeitete, war kein Bett mehr frei.
    Die Mädchen und Petr brachten Papa ins Krankenhaus, wo er in ein großes Zimmer mit vier anderen Betrunkenen gelegt wurde. Tatiana bat um einen Schwamm und etwas Wasser und wusch ihrem Vater das Gesicht ab. Dann setzte sie sich neben ihn und hielt seine schlaffe Hand. »Es tut mir wirklich Leid, Papa«, flüsterte sie.
    Ab und zu drückte sie seine Hand und fragte: »Papa, kannst du mich hören?«
    Schließlich begann er leise zu stöhnen und schlug die Augen auf.
    »Hier, Papa«, sagte sie. »Hier bin ich. Sieh mich an. Du bist für ein paar Tage im Krankenhaus, damit du nüchtern wirst. Dann kommst du wieder nach Hause. Alles wird wieder gut.« Tatiana spürte, dass er leise ihre Hand drückte. »Es tut mir Leid, dass ich dir Pascha nicht zurückbringen konnte. Aber weißt du, wir anderen sind auch noch da.« Tränen traten ihm in die Augen. Er drückte ihre Hand und flüsterte heiser: »Es ist alles meine Schuld ...« Tatiana gab ihm einen Kuss auf die Stirn und sagte: »Nein, lieber Papa, das ist es nicht. Es ist eben Krieg. Aber du musst jetzt wieder nüchtern werden.«
    Zu Hause schrie Dascha Tatiana wütend an, während Marina versuchte, zu vermitteln. Tatiana saß schweigend auf dem Sofa. Sie versuchte, sich einfach vorzustellen, sie säße zwischen Deda und Babuschka. Schließlich war Dascha so aufgebracht, dass sie Tatiana schlagen wollte, aber Marina zog sie weg und sagte: »Dascha, das ist lächerlich! Hör damit auf! Sie ist schon verletzt genug. Siehst du das denn nicht?«
    Müde stand Tatiana auf und ging in das andere Zimmer. Noch einen solchen Tag würde sie nicht überstehen. Als sie an Dascha vorbeiging, packte diese sie am Arm, Tatiana wich ihr aus und sagte: »Dascha, es dauert nicht mehr lange und ich verliere die Geduld. Hör auf und lass mich in Ruhe. Wäre das möglich?«
    Zögernd ließ ihre Schwester sie los.
    Später an diesem Abend, als sie im Bett lagen, streichelte Marina über Tatianas Haare und flüsterte: »Es wird alles gut, Tania. Es wird alles gut.«
    »Woher willst du das denn wissen?«, flüsterte Tatiana zurück. »Wir werden jeden Tag bombardiert, wir werden belagert, bald werden wir nichts mehr zu essen haben, Papa hört nicht auf zu trinken ...«
    »Davon rede ich doch gar nicht«, erwiderte Marina leise. »Dann weiß ich nicht, was du meinst«, flüsterte Tatiana, »aber erzähl es mir lieber nicht.« Dascha war noch nicht im Bett.
    Tatiana drehte sich mit dem Gesicht zur Wand, die Hand auf Alexanders Der eherne Reiter gelegt. Ihre Schläfe pochte. Am nächsten Morgen ging es ihr jedoch ein bisschen besser. Sie tupfte ein wenig Jod auf die Wunde und ging zur Arbeit. In der Mittagspause verließ sie das Krankenhaus und ging langsam zum Marsfeld. Man erkannte es kaum noch wieder.
    Überall waren Schützengräben ausgehoben worden, am Rand waren Artilleriegeschütze aufgebaut und das Feld selbst war vermint. Alle Bänke waren weggebracht worden. Tatiana stellte sich ein paar hundert Meter von dem Torbogen entfernt auf, der zu den Pawlow-Kasernen

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