Die Liebenden von Leningrad
gab es in der Sowjetunion keinen Platz. Er stand gegen die Prinzipien, nach denen sie lebten: Sie glaubten an die Arbeit, an das Leben in Gemeinschaft, an den Schutz des Staates gegen nonkonformistische Individuen und an den Genossen Stalin. Das hatte Tatiana seit dem Kindergarten eingeimpft bekommen. Und doch hatte sie sich am Ende ihrer Schulzeit geweigert, den Jungen Komsomolzen beizutreten. Nicht unbedingt, weil sie an Gott glauben wollte, sondern einfach nur, weil sie das Gefühl hatte, keine besonders gute Kommunistin sein zu können. Dazu liebte sie Michail Sostschenkos Geschichten viel zu sehr.
Tatiana schlug noch einmal verstohlen das Kreuz. Warum tröstete es sie so sehr? Sie fühlte sich auf einmal nicht mehr so allein.
Sie setzte sich in die Kirche gegenüber von ihrem Haus. Werden Kirchen eigentlich auch bewusst bombardiert?, fragte sie sich. Hatten die Deutschen auf die St. Paul's Cathedral in London Bomben geworfen? Wenn sie diese prächtige Kathedrale nicht zerstört hatten, dann würden sie vielleicht auch diese armselige kleine Kirche hier in Ruhe lassen. Auf einmal fühlte sie sich sicherer.
Am Eingang zur Post musste Tatiana über einen toten Mann steigen. Er war auf den Stufen gestorben. »Wie lange liegt er schon da?«, fragte sie den Postmeister.
Er grinste. »Das erzähle ich dir, wenn du mir noch geröstetes Brot gibst.«
»So dringend möchte ich es nun auch nicht wissen«, entgegnete sie.
Dascha verbannte alle Spiegel aus den Zimmern und der Küche. Niemand wollte sich mehr im Spiegel betrachten. Sie blickten auch einander nicht mehr genau an. Um ihren Körper vor sich und den anderen zu verstecken, trug Tatiana ein Flanellunterhemd, ihren Wollpullover, Paschas Wollpullover, dicke Strümpfe, lange Hosen, darüber einen Rock und ihren gesteppten Wintermantel. Den Mantel zog sie nur zum Schlafen aus.
Dascha sagte, sie habe keine Brüste mehi; und Marina erwiderte, Brüste? Ich habe keine Mutter mehr und da redest du von Brüsten? Dascha entschuldigte sich, aber in der Küche brach sie weinend zusammen und sagte: »Ich will wieder eine schöne Figur haben, Taneschka.«
Tatiana rieb sanft Daschas Rücken, »Na komm«, erwiderte sie, »nur Mut, Dascha. Uns geht es doch gar nicht so schlecht. Wir haben immerhin noch etwas Hafer. Geh zurück ins Zimmer, ich mache dir Hafergrütze.«
Marina ging hin und wieder noch zur Universität, obwohl die Professoren nicht mehr lehrten. Aber es war wenigstens warm dort und Marina konnte ein paar Stunden lang in der Bibliothek sitzen und dann in der Mensa ihre klare Suppe essen. »Ich hasse Suppe«, sagte Marina. »Mittlerweile hasse ich sie.« »Es ist eben nur heißes Wasser«, erwiderte Tatiana und registrierte besorgt ihren zusammengeschrumpften Zuckervorrat. Sie besaßen auch nur noch wenig Gerste. »Geh bloß nicht an die Gerste«, sagte sie. »Das ist unser Abendessen für nächsten Monat.« »Das ist doch nur noch eine Tasse voll!«, rief Marina ungläubig aus.
»Gott sei Dank kannst du sie ungekocht nicht essen«, stellte Tatiana fest. Aber sie irrte sich. Am nächsten Tag war kaum noch etwas da.
Es regnete Flugblätter vom Himmel, wie in Luga. Zuerst die Flugblätter, dann die Bomben. Der Unterschied war nur, dass es damals noch etwas zu essen gegeben hatte und dass es warm gewesen war. Damals hatte Tatiana noch an so vieles geglaubt. Sie hatte geglaubt, sie würde Pascha finden. Sie hatte geglaubt, der Krieg sei bald vorbei. Sie hatte dem Genossen Stalin geglaubt. Jetzt glaubte sie nur noch an Alexander. Auf den Flugblättern, die vom Himmel regneten, stand auf Russisch:
FRAUEN! TRAGT EURE WEISSEN KLEIDER, WENN IHR DEN SUWOROSKIJ ENTLANGGEHT, UM EURE ZWEIHUNDERTFÜNFZIG GRAMM BROT ZU HOLEN, DAMIT WIR EUCH AUS UNSEREN FLUGZEUGEN SEHEN KÖNNEN UND NICHT AUF EUCH SCHIESSEN.
Für Tatiana hieß das: Trag dein weißes Kleid, damit du am Leben bleibst.
Ein paar Tage vor dem vierundzwanzigsten Jahrestag der Russischen Revolution brachte Tatiana ein Flugblatt mit nach Hause und warf es achtlos auf den Tisch. Dort blieb es bis zum nächsten Tag liegen, als Alexander kam. Er war noch dünner als zwei Wochen zuvor und sein Gesicht war angespannter. Verschwunden waren sein amüsierter Blick, sein ständiges Lächeln, sein Charme und seine Lebhaftigkeit.
Er umarmte Dascha und sogar Mama, die seine Umarmung erwiderte und sagte: »Wie schön, dass du da bist, mein Lieber. Wir können es kaum ertragen, dass du in dieser Kälte und Nässe da draußen
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