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Die Liebenden von Leningrad

Die Liebenden von Leningrad

Titel: Die Liebenden von Leningrad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paullina Simons
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ich euch das Brot gebe, haben wir heute nichts zu essen.« »Nicht viel, Mädchen«, drängte die alte Frau. »Nur einen Bissen.«
    Als die Bombardierung aufhörte, eilte Tatiana sofort hinaus. Nach diesem Vorfall ging sie morgens noch früher los. Aber trotz aller Anstrengungen schaffte sie es nie mehr, nach Hause zu kommen, bevor die ersten Bomben fielen.
    Sie fragte sich, ob vielleicht Marina oder Dascha schneller wären als sie. Mama nähte jetzt morgens und abends Uniformen von Hand und hatte bestimmt keine Zeit. Dascha behauptete, sie könne nicht gehen, weil sie morgens Wäsche waschen müsste. Auch Marina weigerte sich. Sie ging so gut wie gar nicht mehr zur Universität. Sie holte sich ihr Brot selbst ab und aß es sofort auf. Wenn sie abends in die Fünfte Sowjet zurückkam, verlangte sie von Tatiana mehr zu essen. »Marinka, das ist nicht in Ordnung«, sagte Tatiana zu ihrer Kusine. »Wir haben alle Hunger. Ich weiß, dass es schwer ist, aber du musst dich beherrschen ...« »Oh, so wie du dich beherrschst?«
    »Ja«, erwiderte Tatiana, obwohl ihr klar war, dass Marina nicht vom Brot redete.
    »Du machst das sehr gut«, sagte Marina. »Sehr gut, Tania. Weiter so.«
    Tatiana hatte jedoch nicht das Gefühl, es sehr gut zu machen. Sie fühlte sich schlechter als jemals zuvor, und doch lobte ihre Familie sie für ihre Bemühungen. Sie spürte, dass irgendetwas sie immer langsamer werden ließ, so als träfe sie auf einen unerwarteten Widerstand, wenn sie sich besonders beeilen wollte - ein Widerstand, der von ihrem eigenen Körper ausging. Ihr Körper konnte sich nicht mehr so schnell bewegen wie früher und der unwiderlegbare Beweis dafür waren die deutschen Bomber, die genau um acht Uhr zum Morgenangriff über die Stadt flogen.
    Eines Morgens, als Tatiana im Dunkeln die Nekrasowa entlangging, kam sie an einem Mann vorbei, der in die gleiche Richtung ging wie sie. Er war groß, schon älter, dünn und trug einen Hut.
    Erst als sie an ihm vorbeikam, fiel Tatiana auf, dass sie schon seit langem niemanden mehr überholt hatte. Entweder gehe ich wieder schneller, dachte sie, oder er ist sogar noch langsamer als ich.
    Sie blieb stehen, und als sie sich umdrehte, sah sie, wie der Mann langsam zu Boden sank. Sie lief zu ihm, um ihm aufzuhelfen, aber er lag ganz still da. Seine weit geöffneten Augen starrten Tatiana blicklos an. Er war tot.
    Entsetzt ließ Tatiana den Mann los und lief zum Laden, ohne sich noch einmal umzusehen. Auf dem Rückweg nahm sie einen anderen Weg, um nicht noch einmal an der Leiche vorbei zu müssen. Die Luftangriffe hatten bereits begonnen, aber sie kümmerte sich nicht darum und eilte nach Hause. Als sie ihrer Familie erzählte, dass vor ihren Augen auf der Straße ein Mann gestorben sei, nahmen die anderen kaum Notiz davon. »Ach ja?«, sagte Marina. »Ich habe ein totes Pferd mitten auf der Straße liegen sehen und die Leute haben sich fast darum geprügelt. Und das ist noch nicht einmal das Schlimmste, ich habe jemanden gefragt, ob ich auch ein Stück haben kann.«
    Tatiana aber ging das Gesicht des Mannes nicht mehr aus dem Kopf. Nachts, wenn sie die Augen schloss, sah sie ihn vor sich. Jedoch nicht sein Tod quälte sie, denn Tote hatte sie auch schon in Luga gesehen. Was sie beunruhigte, war, dass er, kurz bevor er umfiel, noch gegangen war, und er war nicht viel langsamer gewesen als Tatiana.

    »Wie viele Dosen Schinken haben wir noch?«, fragte Mama. »Eine«, erwiderte Tatiana. »Das kann nicht sein.«
    »Mama, wir haben jeden Abend Schinken gegessen.« »Aber es kann trotzdem nicht sein«, widersprach Mama. »Vor ein paar Tagen hatten wir doch noch zehn Dosen.« Am nächsten Tag fragte sie: »Haben wir noch Mehl?« »Ja, wir haben noch ungefähr ein Kilo. Ich mache jeden Abend Pfannkuchen daraus.«
    »Sollen das Pfannkuchen sein?«, fragte Dascha. »Ich finde, sie schmecken wie Mehl und Wasser.«
    »Es ist Mehl und Wasser.« Tatiana schwieg. »Alexander nennt sie Meerschaumkuchen.«
    »Kannst du nicht Brot daraus backen?«, fragte Mama. »Statt dieser blöden Pfannkuchen?«
    »Brot, Mama? Womit denn? Wir haben keine Milch, keine Hefe und keine Butter. Und vor allem haben wir keine Eier.« »Gib einfach ein bisschen Wasser dazu - und wir müssen doch noch Sojamilch haben.« »Ja, drei Teelöffel.«
    »Nimm sie und gib auch etwas Zucker in den Teig.« »Gut, Mama.« Also buk Tatiana zum Abendessen Brot ohne Hefe, dafür mit Zucker und der restlichen Milch. Dazu aßen sie die

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