Die Liebenden von Leningrad
den letzten Minuten, die ihr noch bleiben, Trost schenken musst. Deshalb!« »Und was ist mit dir, Tania?«, fragte Alexander mit brechender Stimme. Einen Moment lang blickte er sie schweigend an. Schließlich fuhr er fort: »Brauchst du keinen Trost in den Minuten, die dir noch bleiben?«
»Nein«, erwiderte sie schwach. »Es geht nicht mehr um mich oder um dich.« Sie ließ den Kopf sinken. »Ich kann es aushalten. Sie nicht.«
»Ich kann es auch nicht aushalten«, sagte Alexander.
Tatiana blickte ihn an und erwiderte eindringlich: »Doch, das kannst du, Alexander Barrington. Das und noch viel mehr. Und jetzt hör auf damit.«
»Gut«, sagte er, »dann höre ich auf.«
»Ich möchte, dass du mir etwas versprichst.«
Müde blinzelte er sie an.
»Versprich mir, dass du nie ...« Sie verstummte.
»Was denn?«, fragte Alexander kühl. »Sie heiraten - oder ihr das Herz brechen?«
Eine Träne rann über Tatianas Gesicht. Sie zog den Mantel enger um sich und flüsterte: »Ihr das Herz brechen.« Er blickte sie ungläubig an. »Tania, quäl mich doch nicht so«, sagte er.
»Shura, versprich es mir.«
»Gut. Ich verspreche es, wenn du mir versprichst ...« »Was?«
»Dass du nie wieder dein weißes Kleid trägst, nie wieder dein Brot weggibst, nie wieder aufs Dach gehst. Wenn du es tust, dann sage ich ihr auf der Stelle alles. Auf der Stelle, hörst du?« »Ja«, murmelte Tatiana.
»Versprich mir«, sagte Alexander und zog sie wieder an sich, »dass du dein Bestes tun wirst, um zu überleben.« »Gut«, erwiderte sie, »ich verspreche es.« Er umfasste ihr Gesicht mit beiden Händen. »Wenn du am Leben bleibst, dann schwöre ich dir«, flüsterte Alexander, »dass ich deiner Schwester nie das Herz brechen werde.«
Am nächsten Morgen ging Tatiana ohne Alexander zum Laden. Sie hatte gerade das Brot für die Familie in Empfang genommen, als sie plötzlich einen Schlag auf den Hinterkopf bekam. Ihr wurde beinahe schwarz vor Augen, und hilflos musste sie zusehen, wie ein vielleicht fünfzehnjähriger Junge ihr das Brot entriss und es sich sofort verzweifelt in den Mund stopfte. Die anderen Kunden schlugen mit ihren Taschen auf ihn ein, aber er verschlang das Brot bis auf den letzten Bissen. Einer der Verkäufer ging mit einem Stock auf ihn los, obwohl Tatiana laut »Nein!« schrie. Sie beugte sich über ihn, um ihm zu helfen, aber er sprang auf, schob sie beiseite und rannte weg. Der Verkäufer konnte ihr kein neues Brot geben. »Bitte«, flehte Tatiana. »Ich kann doch nicht ohne Brot nach Hause kommen.«
Mitleidig entgegnete der Mann: »Ich kann nichts tun. Ich werde erschossen, wenn ich unrechtmäßig Brot weggebe. Du hast ja keine Ahnung ...«
»Bitte«, bat sie erneut. »Es ist für meine Familie.« »Ich würde dir gern Brot geben, aber ich kann nicht. Gestern haben sie drei Frauen erschossen, weil sie Lebensmittelkarten gefälscht haben. Direkt auf der Straße. Sie haben sie einfach liegen gelassen. Geh nach Hause, Kleine, und komm morgen wieder.«
»Komm morgen wieder«, murmelte Tatiana, als sie den Laden verließ.
Sie konnte nicht nach Hause gehen. Deshalb setzte sie sich in den nächsten Luftschutzkeller und ging anschließend gleich ins Krankenhaus. Vera war nicht mehr da und auch Tatianas Stechkarte war weg, aber niemand kümmerte sich darum. Sie legte sich in eins der kalten Zimmer, um ein wenig zu schlafen, und später aß sie in der Cafeteria eine dünnflüssige Suppe und etwas Grütze. Es gab jedoch nichts, was sie mit nach Hause nehmen konnte. Vergeblich sah sie sich nach Vera um. Ihr kam in den Sinn, dass Alexander immer versucht hatte, sie zu beschützen. Vor Leningrad, vor Dimitri, vor der Arbeit im Krankenhaus. Vor dem einstürzenden Gebäude in Luga. Vor den deutschen Bomben, vor dem Hunger. Er wollte nicht, dass sie aufs Dach ging. Er wollte nicht, dass sie allein in den Laden ging. Er wollte, dass sie den Helm trug, dass sie sich sauber hielt, dass sie sich die Zähne putzte, obwohl sie nicht durch Nahrung verunreinigt wurden. Er wollte, dass sie lebte. Es tröstete sie ein wenig, daran zu denken. Als sie gegen sieben Uhr abends nach Hause kam, war ihre ganze Familie außer sich vor Sorge. Sie erzählte den anderen, was passiert war, und alle sagten, sie hätte zumindest nach Hause kommen sollen. »Wir hätten es doch verstanden«, sagte Mama. »Das Brot ist uns egal.«
Dascha erzählte, sie habe Alexander losgeschickt, damit er sie suchte.
»Tu so etwas nicht, Dascha«, erwiderte
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