Die Liebenden von Leningrad
»Ach, Alexander«, erwiderte Tatiana vorwurfsvoll. Schweigend nahmen sie kurz darauf ihre Rationen in Empfang. Alexander erhielt Kartoffeln, Karotten, Fleisch und Brot, Sojamilch und Butter. Und saure Sahne.
Auf dem Rückweg trug er die Tasche mit den Lebensmitteln und Tatiana ging stumm neben ihm her. Er ging zu schnell für sie und sie konnte kaum mit ihm Schritt halten. Sie wurde immer langsamer, und als sie bemerkte, dass er immer weiter so schnell ausschritt, blieb sie stehen. Alexander drehte sich um und blaffte: »Was ist?« »Geh schon vor«, sagte Tatiana. »Ich kann nicht so schnell gehen. Ich komme schon zurecht.«
Er kam zurück und reichte ihr seinen Arm. »Wir müssen uns beeilen«, sagte er. »In ein paar Minuten fangen die Deutschen an, Bomben zu werfen - ihr Beitrag zu den Feiern des Jahrestages der Russischen Revolution. Vor heute Abend werden sie nicht damit aufhören.«
Tatiana ergriff seinen Arm. Am liebsten hätte sie geweint.
Schweigend trotteten sie durch den Schnee.
»Ich habe dich nicht aufgegeben, Shura«, sagte Tatiana schließlich.
»Nein?«, fragte er bitter.
»Wie kannst du nur so etwas sagen? Ich habe mich meiner Schwester gegenüber richtig verhalten und du tust so, als sei das ein Fehler. Du solltest dich schämen!« »Ich schäme mich ja auch«, erwiderte er.
Sie packte seinen Arm fester. »Du musst zwar stark sein, aber du kämpfst auch nicht um mich.«
»Ich kämpfe jeden Tag um dich«, entgegnete Alexander und ging wieder schneller.
Tatiana zog ihn am Ärmel und lachte lautlos. Zu mehr fehlte ihr die Kraft.
»Ach so, du nennst es kämpfen, wenn du Dascha bittest, dich zu heiraten?«
Ein durchdringendes Pfeifen und Heulen erfüllte die Luft, weil nun die ersten Bomben abgeworfen wurden. »Jetzt, wo Dimitri verwundet und außer Gefecht gesetzt ist, wirst du mutig!«, rief Tatiana aus. »Jetzt, wo du glaubst, dir keine Sorgen mehr um ihn machen zu müssen, erlaubst du dir alle möglichen Freiheiten gegenüber meiner Familie, und jetzt bist du auch noch wütend auf mich wegen einer längst vergangenen Geschichte. Ich will das nicht! Du fühlst dich schlecht dabei? Nun, dann heirate endlich Dascha und du wirst dich schon wieder besser fühlen.«
Alexander zog sie in einen Hauseingang. Dort verharrten sie, während draußen die Bomben fielen.
»Ich habe sie nicht gebeten mich zu heiraten!«, schrie er. »Ich habe mich einverstanden erklärt, sie zu heiraten, damit du Dimitri loswirst. Oder hast du das vergessen?« »Ach, was für ein großartiger Plan!«, schrie Tatiana zurück. »Du wolltest Dascha nur um meinetwillen heiraten! Wie umsichtig von dir, Alexander, wie menschlich!« Tatiana packte ihn an den Mantelaufschlägen und drängte sich an ihn. »Wie konntest du nur!«, schrie sie ihn an. »Wie konntest du nur ... Du hast sie gebeten, dich zu heiraten , Alexander ...« Ihre Stimme erstarb und sie trommelte mit den Fäusten auf seine Brust. Er zog sie so fest an sich, dass sie keine Luft mehr bekam.
»Oh Gott«, flüsterte er, »was machen wir nur?« Er ließ sie nicht los und sie lehnte sich mit geschlossenen Augen an ihn. Schließlich hob sie den Kopf und blickte ihn an. »Was ist los, Shura? Hast du Angst um mich? Denkst du, ich muss bald sterben?«
»Nein«, erwiderte er, ohne sie anzublicken.
»Was stellst du dir vor, wie ich aussehe, wenn ich sterbe?«, fragte sie und löste sich von ihm.
Es dauerte eine Weile, bis Alexander antwortete, aber dann verriet seine erstickte Stimme seine Emotion. »Wenn du stirbst, trägst du dein weißes Kleid mit den roten Rosen und deine langen Haare fallen dir über die Schultern. Wenn sie dich auf deinem verdammten Dach oder auf der Straße erschießen, wird dein Blut wie eine Rose auf deinem Kleid aussehen.« Tatiana schluckte und erwiderte: »Ich habe das Kleid doch ausgezogen ...«
Alexander starrte auf die Straße. »Es spielt keine Rolle. Im Moment spielt eigentlich gar nichts eine Rolle. Sieh doch, was um uns herum geschieht. Warum stehen wir überhaupt hier? Lass uns nach Hause gehen. Komm.«
Tatiana rührte sich nicht und so blieb er ebenfalls stehen. »Tania, warum spielen wir eigentlich immer noch dieses Spiel?«, fragte er. »Wozu soll das gut sein? Wir haben womöglich nur noch Minuten zu leben, und bestimmt keine guten Minuten. Unser Leben rinnt uns durch die Finger und doch lügen wir immer weiter. Warum?«
»Das kann ich dir sagen!«, rief Tatiana aus. »Um ihretwillen! Weil sie dich liebt. Weil du ihr in
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