Die Liebenden von Leningrad
war schon in Ordnung, und meine Hände heilen auch wieder.«
In dieser Nacht träumte Tatiana, sie schliefe nicht und Alexanders Hände würden sie endlos lange berühren. Früh am Morgen, als sie gerade aufstand, klopfte es an der Tür. Alexander war da. Er hatte zwei Kilo Schwarzbrot und eine Tasse Buchweizengrütze mitgebracht. Außer Tatiana schliefen noch alle. Mit verschränkten Armen und kalten Augen stand er in der Küche und wartete, bis sie sich über dem Ausguss die Zähne geputzt hatte.
»Shura«, sagte sie, »du brauchst nicht mit mir hinauszugehen. Es ist so kalt. Ich kann das Kilo Brot allein tragen. Wenn du mir deine Lebensmittelkarte gibst, bringe ich dir deine Ration auch mit.«
»Es kommt überhaupt nicht in Frage, dass du meine Rationen abholst.«
»Ach nein?«, schnappte sie und trat so rasch auf ihn zu, dass er fast zurückwich. »Wenn du an die Front gehen kannst, Alexander ...«
»Als ob ich eine andere Wahl hätte ...«
»... dann kann ich auch deine Rationen holen. Gib mir deine Karte.«
»Nein«, erwiderte er. »Ich hole deinen Mantel. Wie geht es deinen Händen?«
»Gut«, erwiderte sie und hielt sie ihm hin. Sie wartete darauf, dass er sie ergriff, aber er blickte nur mit kalten Augen darauf. Draußen war es bitterkalt. Es war noch dunkel und ein schneidender Wind drang durch Tatianas Mantel und ihren Schal. Im Laden war es wärmer und heute standen nur ungefähr dreißig Leute vor ihnen in der Schlange.
»Erstaunlich, nicht wahr?«, sagte Alexander und kaum verhüllter Zorn schwang in seiner Stimme mit. »Es ist schon November und du gehst immer noch ganz allein.« Tatiana antwortete nicht. Sie war einfach zu müde dazu. Sie zuckte nur mit den Schultern und wickelte sich den Schal fester um den Kopf.
»Warum tust du das?«, fragte Alexander. »Dascha kann doch auch gehen. Zumindest kann sie dich begleiten. Oder Marina. Warum gehst du immer allein?«
Tatiana wusste nicht, was sie erwidern sollte. Ihr war kalt und ihre Zähne klapperten. Ja, warum gehe ich eigentlich immer allein?, dachte sie. Wir könnten uns ja auch abwechseln. »Wenn Marina geht, isst sie auf dem Heimweg alles auf. Mama näht jeden Morgen und Dascha wäscht. Wer sollte denn sonst gehen? Babuschka?«
Alexander schwieg, sah sie aber weiter ärgerlich an. Tatiana zupfte an seinem Mantel. »Warum bist du denn böse auf mich?«, fragte sie. »Weil ich aufs Dach gegangen bin?« »Weil du ...« Er brach ab. »Weil du nicht auf mich hörst.« Er seufzte. »Ich bin nicht böse auf dich, Tatia. Ich bin wütend auf sie.«
»Das musst du nicht«, erwiderte sie, »Es ist einfach so: Ich bin lieber hier draußen, als dass ich Wäsche wasche.« »Du könntest auch sechs Tage in der Woche so lange schlafen wie Dascha.«
»Hör mal, ihr fällt auch alles nicht leicht, und ich bin gegangen ...«
»Du bist deshalb immer gegangen, weil sie es dir befohlen haben. Sie haben gesagt, oh, und kannst du auch für uns kochen, und auch das hast du getan, trotz deines gebrochenen Beins.« »Alexander, worüber regst du dich denn so auf? Weil ich tue, was sie mir auftragen? Ich tue doch auch, was du mir sagst.« »Ach ja?«, presste er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Du tust, was ich dir sage? Bleibst du von diesem verdammten Dach weg? Gehst du in den Luftschutzkeller? Hast du aufgehört, Nina von euren Lebensmitteln abzugeben? Ja, natürlich tust du, was ich dir sage.«
Tatiana sah ihn ungläubig an. Sie waren immer noch nicht an der Reihe. Ungefähr zwölf Personen standen noch vor ihnen, die ihnen aufmerksam zuhörten. »Ich dachte, du wärest nicht böse auf mich?«
»Deswegen bin ich auch nicht böse. Willst du wissen, was mich wirklich aufregt?«
»Ja«, erwiderte sie müde. Eigentlich wollte sie es gar nicht wissen.
»Du tust alles, was sie von dir verlangen. Sie sagen geh, und du tust es. Sie sagen, gib mir dieses und jenes, und du gibst es ihnen. Sie schlagen dich und du verteidigst sie. Sie sagen, ich will dein Brot, deine Milch, deinen Tee, deinen ...« Tatiana merkte auf einmal, wohin das führte, und versuchte, ihn aufzuhalten. »Nein, nein«, erwiderte sie kopfschüttelnd, »Nein, nicht.«
Aber Alexander fuhr fort: »Sie sagen, er gehört mir, und du sagst, gut, gut, er gehört dir, natürlich, nimm ihn. Mir ist das alles egal. Alles ist mir gleichgültig, ich selbst, mein Essen, mein Brot, mein Leben und er auch.« Er beugte sich dicht zu ihr und flüsterte: »Ich, Tatiana, kämpfe um nichts.«
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