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Die Liebenden von Leningrad

Die Liebenden von Leningrad

Titel: Die Liebenden von Leningrad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paullina Simons
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schließlich nicht selbst fortbringen. Und hier liegen lassen können wir sie auch nicht.« Sie schwieg. »Schließlich können wir nicht hier sitzen und nähen, während unsere tote Großmutter auf dem Sofa liegt.«
    Mama blickte zu Babuschka hinüber. »Es ist immer noch besser, sie liegt hier als draußen auf der Straße«, sagte sie leise. Tatiana ging zur Kommode und holte ein Bettlaken heraus. »Mama, nein, wir können sie nicht hier lassen. Ein Leichnam muss beerdigt werden. Selbst in der Sowjetunion«, fügte sie traurig hinzu. »Dascha, hilfst du mir bitte? Wir müssen sie einwickeln, bevor sie sie holen kommen.«
    Dascha nahm jedoch den Mantel und die Decken weg und sagte: »Die Decken behalten wir. Wir werden sie brauchen.« Tatiana blickte sich suchend im Zimmer um. Dann trat sie zum Fenster und nahm die Kohlezeichnung eines aufgeschnittenen Apfels von der Fensterbank, die Babuschka im September gemalt hatte. Vorsichtig legte sie sie auf Babuschkas Brust. Nachdem die Mädchen Babuschka in das Laken eingehüllt hatten, nähte Mama es oben und unten zu. Tatiana bekreuzigte sich, wischte sich die Tränen ab und ging zur Stadtverwaltung. Später an diesem Nachmittag kamen zwei Männer. Mama gab ihnen als Bezahlung je einen Schluck Wodka. »Ich kann gar nicht glauben, dass Sie noch Wodka haben, Genossin«, sagte einer der beiden Männer aufgeregt. »Sie sind die Erste in diesem Monat.«
    »Wussten Sie nicht, dass Wodka das beste Tauschmittel ist?«, warf der andere ein. »Wenn Sie noch mehr haben, können Sie Brot dafür bekommen.«
    Die Frauen sahen sich an. Tatiana wusste, dass noch zwei Flaschen übrig waren. Seit Papa und Dimitri nicht mehr da waren, trank niemand mehr Wodka, außer Alexander, wenn er kam, und er goss sich immer nur wenig ein.
    »Wohin bringen Sie sie?«, fragte Mama, »Wir kommen mit.« Sie waren heute alle nicht zur Arbeit gegangen. Die Männer erwiderten: »Wir haben den ganzen Lastwagen voll. Für Sie ist da kein Platz mehr. Wir bringen sie zum nächstgelegenen Friedhof. Das dürfte Starorusskaja sein. Dort können Sie sie besuchen.«
    »Was ist mit einem Grab?«, fragte Mama. »Mit einem Sarg?« »Sarg?« Der Mann stieß ein heiseres Lachen aus. »Genossin, selbst wenn Sie mir den Rest von Ihrem Wodka gäben, könnte ich Ihnen keinen Sarg besorgen. Wer sollte denn einen machen? Und woraus?«
    Tatiana nickte. Sie würde einen Sarg auch eher im Ofen verfeuern, als ihre Großmutter darin zu begraben. Erschauernd knöpfte sie sich die Jacke zu.
    »Und das Grab?«, fragte Mama. Ihr Gesicht war aschgrau, und ihre Stimme klang gepresst.
    »Genossin«, rief der Mann von der Stadtverwaltung, »sehen Sie nicht den Schnee und dass der Boden gefroren ist? Kommen Sie mit raus und sehen Sie es sich an, und dann können Sie auch einmal einen Blick auf unseren Lastwagen werfen.« Tatiana legte dem Mann die Hand auf den Arm. »Genosse«, sagte sie leise, »tragen Sie sie bitte für uns nach unten. Das ist am schwersten. Tragen Sie sie nach unten, und um den Rest kümmern wir uns schon.«
    Sie ging auf den Speicher, wo sie früher immer die Wäsche aufgehängt hatten. Heute hing keine Wäsche mehr dort, aber Tatiana fand, wonach sie suchte - ihren alten Schlitten. Er war hellblau mit roten Kufen. Sie trug ihn nach unten auf die Straße. Babuschkas Leiche war schon heruntergebracht worden und lag auf dem verschneiten Bürgersteig. »Kommt, Mädchen, auf eins-zwei-drei«, sagte Tatiana zu Marina und Dascha. Marina war zu schwach, um ihnen zu helfen, aber Tatiana und Dascha hoben Babuschka auf den Schlitten und zogen sie die drei Blocks bis zum Starorusskaja. Mama und Marina folgten ihnen. Zögernd warf Tatiana einen Blick auf den offenen Lastwagen der Verwaltung. Die Leichen türmten sich drei Meter hoch übereinander.
    »Sind das alles Leute, die in letzter Zeit gestorben sind?«, fragte sie den Fahrer.
    »Nein«, erwiderte er. »Das sind nur die von heute Morgen.« Er beugte sich zu Tatiana hinunter. »Gestern haben wir fünfzehnhundert Leichen von den Straßen aufgesammelt. Verkauf deinen Wodka, Mädchen, verkauf ihn und besorge dir Brot dafür.« Der Eingang zum Friedhof war von Leichen versperrt. Manche waren in Laken eingehüllt, andere nicht. Tatiana sah eine Mutter mit einem kleinen Kind. Sie hatte offenbar ihren toten Mann zum Friedhof gezogen und war dann dort erfroren. Tatiana schloss die Augen und versuchte, das Bild zu verdrängen. Sie wollte wieder nach Hause. »Hier kommen wir nicht durch.

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