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Die Liebenden von Leningrad

Die Liebenden von Leningrad

Titel: Die Liebenden von Leningrad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paullina Simons
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Tatiana kehrte mit einem Glas voller schwarzem Dreck zurück. Zu dieser Masse war der Zucker geschmolzen, als die Deutschen im September die Badajew-Lager bombardiert hatten. So fröhlich sie konnte, verkündete Tatiana: »Wenn sich der Dreck erst einmal auf dem Boden abgesetzt hat, ist unser Tee süß.«
    Sieh nicht auf, Tatiana, steh ruhig in der Schlange an deinem Platz, sonst gibt es kein Brot und du musst dir einen anderen Laden suchen. Bleib stehen, beweg dich nicht, jemand anderer wird sich darum kümmern. Eine Bombe war auf die Straße gefallen und hatte sechs Frauen getötet. Was sollte sie tun? Sich um die Lebenden, um ihre Familie, kümmern? Oder Leichen fortschaffen? Sieh nicht auf, Tatiana.
    Blick lieber auf deine kaputten Stiefel. Früher einmal hätte Mama ihr neue machen können, aber heute konnte sie nicht einmal mehr eine zusätzliche Uniform pro Tag nähen, wo sie doch im Oktober auf ihrer Maschine noch zehn am Tag zustande gebracht hatte.
    Alexander, ich möchte mein Versprechen ja gern halten. Ich möchte am Leben bleiben - aber ich weiß nicht, wie ich das mit zweihundert Gramm Brot pro Tag schaffen soll, das mindestens zu fünfundzwanzig Prozent aus essbarer Zellulose - Sägemehl und Fichtenrinde - besteht. Ich schaffe es auch nicht mit klarer Suppe oder mit wässeriger Hafergrütze. Luba Petrowa hat nicht durchgehalten. Vera, Kirill und Nina Iglenko auch nicht. Werden Mama und Dascha es schaffen? Und Marina?
    Das Verlangen nach etwas Essbarem überdeckte alles. Das Artilleriefeuer ignorierte Tatiana völlig. Sie hatte nicht mehr die Kraft wegzulaufen, sich zu Boden zu werfen, Leichen oder Verwundete wegzuschaffen. Sie war wie betäubt, und nur noch wenige Gefühle durchdrangen diese Taubheit. Für ihre Mutter und Dascha empfand sie Zuneigung. Marina rührte sie und mit Nina Iglenko hatte sie Mitleid empfunden. Sie war erst gestorben, nachdem auch ihr letzter Sohn tot war. Tatiana musste gänzlich aufhören zu fühlen. Sie biss die Zähne zusammen.
    Trotz meines kurzen Lebens fürchte ich den Tod nicht. Ich werde ihm hocherhobenen Hauptes ins Antlitz blicken.

Die andere Seite der weißen Nächte: Dezember in Leningrad. Weiße Nächte - Licht, Sommer, Sonnenschein, ein pastellblauer Himmel, Dezember - Dunkelheit, Schneestürme, dichte Wolken, ein tief hängender Himmel. Bedrückend. Gegen zehn Uhr morgens hellte sich der Himmel ein wenig auf. Bis zwei Uhr herrschte trübes Tageslicht, dann wurde es wieder dunkel.
    Vollständig dunkel. Anfang Dezember gab es so gut wie keine Stromversorgung mehr in Leningrad. Elektrizität war den wenigen Fabriken vorbehalten, die kriegswichtige Güter produzierten: Kirow, die Brotfabrik, die Wasserwerke, Mamas Fabrik, ein Flügel in Tatianas Krankenhaus. Es fuhr kaum noch eine Straßenbahn. In der Wohnung gab es weder Licht noch Heizung. Wasser gab es immer noch nur bis zum ersten Stock. Anfang Dezember trat Amerika endlich in den Krieg ein, weil irgendetwas mit Hawaii und den Japanern passiert war. »Ah, vielleicht jetzt, wo Amerika auf unserer Seite ist ...«, sagte Mama, während sie nähte.
    Ein paar Tage nach diesen Neuigkeiten wurde Tikhvin zurückerobert. Das verstand Tatiana. Tikhvin! Das bedeutete Eisenbahn, Eisstraße, Lebensmittel. Vielleicht bedeutete es auch, dass die Rationen wieder gesteigert wurden? Nein, das bedeutete es nicht. Es gab auch weiterhin nur hundertfünfundzwanzig Gramm Brot.
    Als der Strom abgestellt wurde, funktionierte auch das Radio nicht mehr. Kein Metronom, keine Nachrichten mehr.
    Sie saßen da und blickten einander an, und Tatiana wusste, was die anderen dachten.
    Wer würde die Nächste sein?
    »Erzähl uns einen Witz, Tania.«
    Sie seufzte. »Ein Kunde kommt zum Metzger und sagt: >Ich hätte gern fünf Gramm Wurst.« - >Fünf Gramm?<, wiederholt der Metzger, »machst du dich über mich lustig?< - »Keineswegs*, sagt der Kunde. >Wenn ich mich über dich lustig machen wollte, hätte ich dich gebeten, sie aufzuschneiden.<« Allgemeines Seufzen. »Ein guter Witz, Tochter.«
    Tatiana ging durch den Flur und zog den Wassereimer hinter sich her. Die Tür des verrückten Slawin war geschlossen, und Tatiana durchzuckte auf einmal der Gedanke, dass sie schon seit einer ganzen Weile nicht mehr offen gewesen war. Die Tür zu Petr Petrows Zimmer jedoch stand offen. Er saß an seinem kleinen Tisch und versuchte vergeblich, sich eine Zigarette zu drehen.
    »Brauchst du Hilfe?«, fragte Tatiana, ließ ihren Eimer im Flur stehen und trat

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