Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Liebenden von Leningrad

Die Liebenden von Leningrad

Titel: Die Liebenden von Leningrad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paullina Simons
Vom Netzwerk:
Wir sollten Babuschka hier lassen«, sagte Tatiana. »Was bleibt uns anderes übrig?« Sie und Dascha hoben Babuschkas Leiche vom Schlitten und legten sie vorsichtig in den Schnee neben den Toren zum Friedhof. Einen Moment lang blieben sie noch bei ihr stehen, dann gingen sie nach Hause. Sie verkauften die zwei Flaschen Wodka, erhielten dafür auf dem Schwarzmarkt aber nur zwei Laibe Weißbrot. Jetzt, wo Tikhvin an die Deutschen gefallen war, gab es selbst auf dem Schwarzmarkt kein Brot mehr.

    Eine Woche verging. Tatiana konnte die Toilette nicht mehr abziehen. Sie konnte sich nicht mehr die Zähne putzen. Sie konnte sich nicht waschen. Alexander wird sich nicht darüber freuen, dachte sie. Sie hatten nichts von Alexander gehört. Ob es ihm wohl gut ging?
    »Was glaubst du, wann sie die Rohre reparieren?«, fragte Dascha eines Morgens.
    »Du solltest hoffen, dass es nicht so schnell passiert«, sagte Tatiana. »Sonst müsstest du wieder Wäsche waschen.« Dascha umarmte Tatiana. »Ich liebe dich. Du machst immer noch Witze.«
    »Aber keine besonders guten«, sagte Tatiana und erwiderte die Umarmung ihrer Schwester.
    Der Umstand mit den kleinen Wassereimern war hart. Dass die Rohre eingefroren waren, war noch schlimmer. Am schlimmsten jedoch war die Tatsache, dass die Leute Wasser auf der Treppe verschütteten, wenn sie die Eimer hinauf schleppten. Das Wasser ergoss sich über die Stufen und gefror. Es herrschten jeden Tag bis zu zwanzig Grad minus und die Treppe war ständig mit Eis bedeckt. Jeden Morgen rutschte Tatiana auf dem Hinterteil die Treppe hinunter.
    Den vollen Wassereimer wieder hinaufzutransportieren war ganz besonders schwierig. Mindestens einmal glitt sie aus und dann musste sie noch ein zweites Mal hinuntergehen, um Wasser zu holen. Und je mehr Wasser auf die Treppe spritzte, desto dicker wurde das Eis. Die Stufen der Hintertreppe waren am tückischsten. Eine Frau aus dem vierten Stock stürzte, brach sich das Bein und konnte nicht mehr aufstehen. Sie erfror auf der Treppe.
    Tatiana, Marina, Dascha und Mama saßen auf dem Sofa und lauschten den Schlägen des Metronoms im Radio. Gelegentlich wurden sie von einem Wortschwall unterbrochen, von dem man manches sogar verstehen konnte, wie »Moskau kämpft erbittert gegen den Feind«, manches aber auch unverständlich war wie »Die Brotration wird auf hundertfünfundzwanzig Gramm pro Tag für Abhängige und zweihundert Gramm pro Tag für Arbeiter reduziert«.
    Stalin redete davon, in Wolkow eine zweite Front zu eröffnen, allerdings erst dann, wenn Churchill in den nordeuropäischen Ländern ebenfalls eine zweite Front einrichtete, um die Deutschen abzulenken. Churchill sagte, er habe weder genug Männer noch genug Waffen, um das zu tun, sei aber bereit, Stalin für seine Materialverluste zu entschädigen. Darauf antwortete Stalin beleidigt, diese Rechnung würde er direkt dem Führer präsentieren.
    Moskau lag im Todeskampf. Die Stadt wurde genauso bombardiert wie Leningrad.
    »Ich habe schon seit einem Monat nichts mehr von Babuschka Anna gehört«, sagte Dascha eines Abends. »Tania, hast du etwas von Dimitri gehört?«
    »Natürlich nicht«, erwiderte Tatiana. »Ich glaube auch nicht, dass er jemals wieder von sich hören lässt, Dascha.« Sie schwieg. »Alexander hat auch schon lange nicht mehr geschrieben.« »Doch, mir«, sagte Dascha. »Vor drei Tagen. Ich habe nur vergessen, es dir zu erzählen. Willst du seinen Brief lesen?«
    Liebe Dascha und ihr anderen,
    ich hoffe, ihr seid wohlauf. Wartet ihr auf meine Rückkehr? Ich hoffe auch sehnsüchtig, bald zu euch kommen zu können. Mein Kommandant hat mich nach Kokorewo geschickt - einem Fischerdorf ohne Fischer. Wo früher der Ort war; ist nur noch ein Bombentrichter.: Wir hatten praktisch keine Lastwagen auf dieser Seite, allerdings auch kein Benzin. Zwanzig Soldaten standen mit ein paar Pferden dort herum. Wir sollten das Eis testen, um zu sehen, ob es einen Laster mit Nahrungsmitteln und Munition oder zumindest einen Pferdeschlitten mit Nahrungsmitteln tragen würde.
    Wir gingen also aufs Eis. Es ist so kalt, dass man meinen sollte, es sei mittlerweile dick genug, aber nein. An manchen Stellen war es noch überraschend dünn. Wir verloren gleich einen Laster und zwei Pferde, doch anstatt tatenlos am Ufer herumzustehen, dachte ich, ach, was sollst Ich sprang auf ein Pferd und ritt die ganze Strecke - über das Eis - bis nach Kobonal Vier Stunden lang. Die Temperatur betrug inzwischen minus zwölf

Weitere Kostenlose Bücher