Die Liebenden von Leningrad
Grad.
Als ich mit einem Schlitten voller Nahrungsmittel zurückkam, übergab man mir gleich ein Transportregiment - ein anderes Wort für Freiwillige. Niemand würde echte Soldaten zu so etwas einteilen.
Bis das Eis dick genug war für die Lastwagen, mussten die Freiwilligen die Pferdeschlitten nach Kobona bringen, um dort Mehl und andere Lebensmittel abzuholen. Ich sage euch, eure Großmutter hätte das besser gekonnt als manche von diesen Männern. Sie waren noch nie geritten und noch nie so lange draußen in der Kälte gewesen. Ich kann gar nicht zählen, wie viele Männer vom Pferd gefallen oder im Eis eingebrochen und ertrunken sind.
Wir haben auch versucht, Benzin nach Leningrad zu bringen, weil der Benzinmangel genauso schlimm ist wie die Nahrungsmittelknappheit. Es gibt kein Petroleum, um die Steinöfen zum Brotbacken zu befeuern.
Nach und nach bewältigten die Männer die dreißig Kilometer lange Strecke von Kobona nach Kokorewo zu Pferde immer besser. Eines Tages schafften wir sogar über zwanzig Tonnen an Lebensmitteln herüber. Es ist zwar nicht annähernd genug, aber immerhin schon etwas. Jetzt bin ich in Kobona und verlade Lebensmittel auf die Schlitten. Jedes Mal, wenn ich die Mehlsäcke sehe, fällt es mir schwer, weil ich weiß, dass ihr gar nichts mehr habt. Die Rationen der Frontsoldaten sind auf ein Pfund Brot pro Tag reduziert worden, und ich habe gehört, dass die Abhängigen nur noch hundertfünfundzwanzig Gramm pro Tag bekommen. Wir versuchen, die Lage wieder zu verbessern.
Ich brauche euch nicht zu erzählen, dass die Deutschen über unsere kleine Eisstraße nicht besonders glücklich sind. Sie bombardieren sie gnadenlos, Tag und Nacht. Nachts allerdings weniger. In der ersten Woche, in der das Eis schließlich auch die Lastwagen trug, haben wir drei Dutzend voll beladene Wagen verloren. Schließlich wurde klar, dass ich keinen Lastwagen mehr fahren konnte, ich war auf diesem Platz einfach nicht richtig eingesetzt, jetzt bin ich in Kokorewo als Artillerieschütze. Ich stehe hinter einer Zenith-Luftabwehrwaffe. Man kann damit entweder Maschinengewehre oder Granaten abfeuern. Es erfüllt mich mit tiefer Befriedigung, wenn ich einen Flieger abschieße, der einen unserer Laster bombardiert hätte, der Lebensmittel zu euch bringt.
Das Eis ist mittlerweile ganz dick. Die Lastwagen fahren mit vierzig Stundenkilometern über den See. Die anderen Soldaten und ich nennen die Eisstraße Straße des Lebens. Das klingt doch nach etwas, oder?
Ohne Tikhvin können wir jedoch nicht viel nach Leningrad hineinbringen. Wir müssen Tikhvin zurückerobern. Was glaubst du, Dascha, sollte ich mich freiwillig dafür melden? Die Deutschen von meiner ausgemergelten grauen Stute aus mit meinem brandneuen Maschinengewehr angreifen? Keine Sorge, ich mache nur Witze. Die Schpagin ist allerdings ein hervorragendes Gewehr.
Ich weiß nicht, wann ich wieder nach Leningrad kommen kann, aber wenn ich komme, bringe ich etwas zu essen mit, also haltet durch.
Mut, ihr alle.
Euer Alexander
Geh weiter, geh weiter, sieh dich nicht um, sagte Tatiana zu sich. Zieh den Schal über dein Gesicht, zieh ihn bis über die Augen, wenn es sein muss, sieh dich nicht um in Leningrad, in deinem Hof, wo sich die Leichen türmen, in den Straßen, wo die Toten im Schnee liegen. Heb einfach die Füße und steig über sie hinweg. Geh um sie herum. Aber sieh sie nicht an. An diesem Morgen sah Tatiana einen toten Mann mit zerstörtem Oberkörper auf der Straße liegen. Er war nicht von einer Bombe zerrissen worden. Sein Bauch war mit einem Messer herausgeschnitten worden. Tatiana tastete nach Alexanders Pistole in ihrer Manteltasche und trottete stumm durch die Schneeverwehungen, den Blick fest auf den Boden vor sich geheftet. Sie musste Alexanders Pistole unterwegs zweimal ziehen. Wie gut, dass es Alexander gab.
Ende November zerbarst die Fensterscheibe in dem Zimmer, in dem sie aßen, durch eine Bombenexplosion. Sie hängten Babuschkas Decken vor das Fensterloch, etwas anderes hatten sie nicht. Innerhalb weniger Minuten sank die Temperatur im Zimmer bis auf minus dreißig Grad.
Tatiana und Dascha trugen die borsoika in ihr Zimmer und stellten sie vor Mamas Sofa, damit sie es warm hatte, wenn sie die Uniformen nähte. Die Fabrik zahlte ihr zwanzig Rubel für jede zusätzliche Uniform. Mama brauchte den ganzen November, um fünf Uniformen zu nähen. Dann gab sie Tatiana hundert Rubel und trug ihr auf, dafür etwas zu essen zu kaufen.
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