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Die Liebenden von Leningrad

Die Liebenden von Leningrad

Titel: Die Liebenden von Leningrad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paullina Simons
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rotem Kopf spürte sie auf einmal, dass ihr schwindlig wurde. Sie blickte auf ihre Schuhe. »Außer dem Eis habe ich den ganzen Tag noch nichts gegessen«, sagte sie kläglich. Der Soldat legte seinen Arm um sie und sagte mit seiner ruhigen, festen Stimme: »Nur nicht ohnmächtig werden!« Sie wollte gar nicht sehen, wie er sie prüfend anblickte. Er roch angenehm und männlich, nicht nach Alkohol oder Schweiß wie die meisten Russen. Woran lag das? An seiner Seife? An einem Eau de Cologne für Männer? Die Männer in der Sowjetunion parfümierten sich nicht. Nein, es war sein eigener Geruch. »Es tut mir Leid«, sagte Tatiana und versuchte aufzustehen. Er half ihr. »Danke.«
    »Keine Ursache. Geht es dir wieder besser?«
    »Ja. Ich bin wahrscheinlich nur hungrig.«
    Er hielt immer noch ihren Oberarm fest. Seine Hand war groß und kräftig. Leicht zitternd richtete Tatiana sich auf und er ließ sie los.
    »Erst die lange Busfahrt, dann das Sitzen in der Sonne ...«, sagte der Soldat besorgt. »Es wird dir gleich besser gehen. Komm, da ist unser Bus.«
    Der Bus wurde von demselben Fahrer gelenkt. Er blickte die beiden mit hochgezogenen Augenbrauen an, sagte aber nichts. Dieses Mal setzten sie sich nebeneinander - Tatiana ans Fenster, der Soldat mit dem Arm über der hölzernen Rückenlehne neben sie.
    Sie konnte ihn immer noch nicht ansehen, jetzt, wo er so nahe neben ihr saß.
    »Ich werde normalerweise nicht ohnmächtig«, sagte sie und blickte aus dem Fenster. Das war eine Lüge. Sie fiel ständig in Ohnmacht. Man musste ihr nur einen Stuhl gegen das Knie schieben und schon lag sie bewusstlos auf dem Boden. Die Lehrer in der Schule schickten sie wegen ihrer Ohnmächten regelmäßig nach Hause.
    Endlich blickte sie den jungen Mann an. Lächelnd fragte er: »Wie heißt du überhaupt?« »Tatiana«, erwiderte sie und betrachtete den Hauch von Bartstoppeln in seinem Gesicht, die scharfe Linie seiner Nase, seine schwarzen Augenbrauen und die kleine, graue Narbe auf seiner Stirn. Seine Zähne waren unglaublich weiß. »Tatiana«, wiederholte er mit seiner tiefen Stimme. »Tania? Taneschka?«
    »Tania«, erwiderte sie und gab ihm die Hand. Er ergriff sie, bevor er ihr seinen Namen nannte. Ihre kleine, schmale Hand verschwand in seiner riesigen, warmen Pranke. Sie hatte das Gefühl, er müsse ihren Herzschlag durch ihre Finger, ihr Handgelenk, die Adern unter ihrer Haut spüren. »Ich bin Alexander«, sagte er. Er hielt ihre Hand fest. »Tatiana. Ein schöner russischer Name.« »Alexander auch«, sagte sie und senkte die Augen. Langsam entzog sie ihm ihre Hand. Seine Finger lang und kräftig mit kurz geschnittenen Nägeln.
    Tatiana blickte auf die Straße. Das Fenster des Busses war schmutzig. Sie fragte sich, wer es wohl putzen mochte und wie oft. Sie musste sich ablenken. Trotzdem hatte sie das Gefühl, als ob er darauf wartete, dass sie ihn ansähe, als ob er gleich ihr Gesicht mit den Händen zu sich drehen würde. Lächelnd wandte sie sich ihm zu. »Möchtest du einen Witz hören?« »Schrecklich gern.«
    »Ein Soldat wird zu seiner Hinrichtung geführt«, begann sie. »>Es wird gleich regnen<, sagt er zu seinen Wachen. Jetzt hör dir den an<, erwidern sie. >Wir müssen wieder zurückgehen^ Alexander lachte so laut und spontan und sah sie dabei so fröhlich an, dass in Tatiana etwas zu schmelzen begann. »Der ist lustig, Tania«, sagte er.
    »Danke.« Sie lächelte und fügte rasch hinzu: »Ich kenne noch einen Witz: >General, was halten Sie von der bevorstehenden Schlacht?*«
    Alexander erwiderte: »Den kenne ich. Der General antwortet: >Gott weiß, dass sie verloren wird.<«
    Tatiana fuhr fort: »>Warum sollen wir dann überhaupt kämpfen?*«
    »>Um herauszufinden, wer der Verlierer ist.<«
    Sie lächelten beide und wandten dann den Blick ab.
    »Deine Bänder sind aufgegangen«, sagte der junge Mann auf einmal.
    »Meine was?«
    »Deine Bänder. Hinten an deinem Kleid. Sie sind aufgegangen. Dreh dich mal um. Ich binde sie wieder fest.« Sie wandte ihm den Rücken zu und spürte, wie er an den Satinbändern zog. »Wie fest soll ich sie ziehen?« »So ist es gut«, erwiderte sie heiser und hielt den Atem an. Er konnte sicher den Ansatz ihres Hinterns sehen. Plötzlich fühlte sie sich unbehaglich und verlegen.
    Als sie sich wieder umdrehte, räusperte sich Alexander und fragte: »Möchtest du am Polustrovskij aussteigen? Um deine Kusine Marina zu besuchen? Oder soll ich dich nach Hause bringen?«
    »Polustrovskij?«,

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