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Die Liebenden von Leningrad

Die Liebenden von Leningrad

Titel: Die Liebenden von Leningrad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paullina Simons
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entgegnete Dascha. So rasch sie konnte, sah Tatiana unter ihrem Bett nach. Dort lagen ihr Sostschenko, John Stuart Mill und das englische Wörterbuch. Ihr fiel ein, dass sie am Samstagnachmittag Puschkin gelesen und den kostbaren Band achtlos auf dem Sofa liegen gelassen hatte. Sie drehte sich zu Dascha um, die immer mehr Bücher in die Flammen warf.
    Entsetzt entdeckte Tatiana das Buch Der eherne Reiter in den Händen ihrer Schwester. »Dascha, nein!«, schrie sie und sprang auf sie zu. Sie wusste selbst nicht, woher sie die Kraft dazu nahm.
    Sie riss Dascha das Buch aus den Händen und drückte es an ihre Brust. »Nein! Das ist mein Buch!«, sagte sie mit zitternder Stimme.
    »Es sind alles unsere Bücher, Tania«, erwiderte Dascha apathisch. »Was macht das schon? Hauptsache, es ist warm.« Tatiana war so erschüttert, dass sie eine Zeit lang gar nichts sagen konnte. »Dascha, warum denn die Bücher? Wir haben doch noch das ganze Esszimmer. Ein Tisch und sechs Stühle, Wenn wir sparsam damit umgehen, reicht es für den Winter.« Sie wischte sich über den Mund und starrte dann auf ihre Hand. Sie war voller Blut.
    »Du willst das Esszimmer zersägen?«, fragte Dascha und warf Das Kommunistische Manifest von Karl Marx ins Feuer. »Gern.«
    Irgendetwas war mit Tatianas Körper los. Sie wollte ihre Mutter oder ihre Schwester nicht beunruhigen, sie wollte lieber auf Alexander warten und ihn fragen, was mit ihr los war. Doch dann sah sie, dass auch Marina aus dem Mund blutete. »Komm, Marina«, sagte sie. »Lass uns ins Krankenhaus gehen.« Es dauerte lange, bis ein Arzt sie untersuchte. »Skorbut«, sagte er gleichmütig. »Es ist Skorbut, Mädchen. Das haben alle. Ihr blutet von innen. Eure Blutgefäße sind zu dünn und brüchig geworden. Ihr braucht Vitamin C. Zum Glück kann ich euch eine Spritze geben.«
    Sie bekamen beide eine Vitamin-C-Injektion. Tatiana erholte sich.
    Marina nicht. In der Nacht flüsterte sie Tatiana zu: »Tania, hörst du mich?«
    »Was ist denn, Marinka?«
    »Ich will nicht sterben«, flüsterte sie, und wenn sie hätte weinen können, hätte sie es getan. Aber sie konnte kaum noch seufzen. »Ich will nicht sterben, Tania! Wenn ich nicht hier bei Mama geblieben wäre, dann wäre ich jetzt mit Babuschka in Molotow und würde nicht sterben.«
    »Du wirst auch nicht sterben«, erwiderte Tatiana und legte Marina die Hand auf den Kopf.
    »Ich will nicht sterben«, begann Marina erneut, »ohne nur ein einziges Mal empfunden zu haben, was du empfindest.« Sie rang nach Atem. »Nur ein einziges Mal in meinem Leben, Tania!«
    Dascha mischte sich mit schwacher Stimme ein. »Was empfindet Tania denn?«
    Marina antwortete nicht. »Taneschka ...«, flüsterte sie. »Wie fühlt es sich denn an?«
    »Wie fühlt sich was an?«, fragte Dascha. »Gleichgültigkeit?
    Kalte? Dahinschwinden?«
    Tatiana strich sanft über Marinas Stirn.
    »Es fühlt sich so an«, flüsterte sie, »als ob du nicht allein wärst.
    Weißt du noch, wie ich gerudert bin und du bist mit Pascha neben dem Boot hergeschwommen? Wo ist deine Stärke von damals, Marinka?«
    Am nächsten Morgen lag Marina tot neben Tatiana. Dascha sagte: »Wir haben noch ihre Vorräte.« Sie blinzelte noch nicht einmal beim Anblick ihrer toten Kusine. Tatiana schüttelte den Kopf. »Sie hat sie schon aufgebraucht, das weißt du doch. Es ist nichts mehr übrig.« Tatiana hüllte Marina in ein weißes Laken, das Mama oben und unten zunähte, und dann ließen sie Marina über die vereiste Treppe hinuntergleiten. Auf der Straße versuchten sie, sie auf den Schlitten zu legen, konnten sie aber nicht anheben. Nachdem Tatiana das Kreuzzeichen über Marina geschlagen hatte, ließen sie sie einfach auf dem verschneiten Bürgersteig liegen.

    Wieder ein Tag, wieder eine Vitaminspritze. Wieder zweihundert Gramm Schwarzbrot. Tatiana tat so, als ginge sie weiter zur Arbeit, damit sie eine Arbeiterration bekam, aber im Krankenhaus gab es nichts für sie zu tun, sie konnte nur bei den Sterbenden sitzen.
    Eine Woche, nachdem Marina gestorben war, saßen Tatiana, Dascha und Mama an einem ruhigeren Abend vor der fast erloschenen borsoika auf dem Sofa. Alle Bücher waren verheizt, außer denen, die Tatiana unter ihrem Bett versteckt hielt. Die Glut erleuchtete das Zimmer so gut wie gar nicht und Mama nahte im Dunkeln.
    »Was nähst du da, Mama?«, fragte Tatiana. »Nichts«, erwiderte Mama. »Nichts Wichtiges. Seid ihr noch bei mir, meine Mädchen?« »Ja, wir sind hier,

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