Die Liebenden von Leningrad
und streichelte ihr kurz über die Wange.
Er hüllte die Mutter in den weißen Tarnanzug und trug sie vorsichtig die Treppe hinunter. Dann legte er sie auf Tatianas Schlitten und zog sie zum Starorusskaja. Die beiden Mädchen gingen neben ihm her. Am Tor räumte er die gefrorenen Leichen beiseite und zog den Schlitten in den Friedhof hinein. Dort legte er Mama sanft auf den Schnee. Er brach zwei kleine Äste ab, und Tatiana band sie mit einem Stück Schnur zu einem Kreuz zusammen, das sie ihrer Mutter auf die Brust legten. »Kennst du ein Gebet, Alexander?«, fragte Tatiana. Alexander schüttelte den Kopf. Er bekreuzigte sich und murmelte leise ein paar Worte.
Als sie hinausgingen, fragte Tatiana: »Du kennst kein Gebet?« »Nicht auf Russisch«, flüsterte er zurück.
In der Wohnung wurde er beinahe fröhlich. »Mädchen«, sagte er, »ihr glaubt gar nicht, was ich euch alles Gutes mitgebracht habe. Ganz allein für euch.«
Er hatte einen Sack Kartoffeln, sieben Orangen, die er Gott weiß wo aufgetrieben hatte, ein Pfund Zucker, ein halbes Pfund Gerste, Leinsamenöl und drei Liter Motoröl. Alexander strahlte Tatiana an.
Wenn Tatiana gekonnt hätte, hätte sie sein Lächeln erwidert. Alexander zeigte ihr, wie sie mit dem Motoröl Licht machen konnte. Er gab ein paar Teelöffel Öl zwischen zwei Unterteller, legte einen angefeuchteten Docht hinein, ließ das Ende heraushängen und zündete dann das Öl an. In dem Licht konnte man nähen oder lesen. Dann ging er weg und kam eine halbe Stunde später mit Holz zurück. Er sagte, er habe die zerbrochenen Balken im Keller gefunden. Wasser holte er ihnen auch. Tatiana hätte ihn am liebsten berührt. Aber das tat Dascha schon die ganze Zeit. Sie wich nicht von seiner Seite. Tatiana machte Tee und gab Zucker hinein. Dann kochte sie drei Kartoffeln und etwas Gerste und brach das Brot in drei Teile. Es war ein richtiges Essen. Danach erhitzte sie Wasser auf dem Ofen, bat Alexander um Seife und wusch sich Gesicht, Hals und Hände.
»Danke, Alexander«, sagte sie. »Hast du etwas von Dimitri gehört?«
»Nein«, erwiderte er, »Und du?« Tatiana schüttelte den Kopf.
»Alexander, mir fallen die Haare aus«, sagte Dascha. »Sieh mal.« Sie zog sich eine schwarze Strähne heraus. »Dascha, lass das«, erwiderte er und wandte sich wieder an Tatiana. »Fallen dir auch die Haare aus?« Sein Blick war so warm wie die borsoika.
»Nein«, murmelte sie leise. »Das können sich meine Haare nicht leisten. Ich wäre ja innerhalb von einem Tag kahl. Aber ich blute.« Sie blickte ihn an und wischte sich über den Mund. »Die Orangen helfen bestimmt.«
»Esst sie alle hintereinander auf, aber langsam. Und, Mädchen, geht abends nicht auf die Straße. Es ist zu gefährlich.« »Das tun wir nicht.« »Und verschließt immer die Tür.« »Natürlich.«
»Und warum konnte ich dann heute einfach hereinkommen?« »Das war Tania. Sie hat sie offen gelassen.« »Schieb nicht immer alles auf deine Schwester. Schließ einfach ab.«
Nach dem Essen holte sich Alexander eine Säge aus dem Keller und zersägte die Esszimmermöbel in kleine Stücke, damit sie weiteres Heizmaterial hatten. Während er arbeitete, stand Tatiana neben ihm. Dascha saß in Decken gewickelt auf dem Sofa. Im Zimmer war es kalt, aber sie hielten sich hier sowieso nicht mehr auf. Sie schliefen und aßen nur noch in dem anderen Zimmer, in dem das Fenster nicht zerbrochen war. »Alexander, wie viel Tonnen Mehl gibt es mittlerweile nur noch für uns?«, fragte Tatiana, während sie die Holzscheite in der Ecke stapelte. »Ich weiß nicht.« »Lüg nicht.«
Er seufzte. »Fünfhundert Tonnen.«
Dascha sagte: »Das klingt ziemlich viel.«
»Das ist es aber nicht«, erwiderte Alexander.
»Wie viele Tonnen waren es noch im Juli?«, wollte Tatiana wissen.
Widerstrebend sagte Alexander: »Siebentausendzweihundert.« Tatiana erwiderte nichts. Sie beobachtete Dascha. Dascha resigniert, dachte sie. Mit ihrer fröhlichsten Stimme sagte sie laut: »Man muss an allem das Positive sehen - fünfhundert Tonnen ist doch ganz schön viel.«
Im Halbdunkel saßen sie eng aneinander gekuschelt auf dem Sofa, Alexander zwischen Tatiana und Dascha. Tatiana trug den gesteppten Mantel, den Mama für sie genäht hatte, und eine Stepphose. Sie zog sich die Mütze tief über die Ohren, so dass nur noch ihre Nase und ihr Mund herausschauten. Alexander sagte: »Es gibt eine Redensart, die lautet: >Ich möchte ein deutscher Soldat sein - mit einem
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