Die Liebenden von Leningrad
russischen General, britischen Waffen und amerikanischen Rationen.*« »Mir würden die amerikanischen Rationen schon genügen«, entgegnete Tatiana. »Wird es denn jetzt leichter für uns, seit die Amerikaner in den Krieg eingetreten sind?«
»Ja.«
»Weißt du das genau?«
»Absolut. Seit die Amerikaner dabei sind, gibt es Hoffnung.« Dascha warf ein: »Wenn wir hier heil herauskommen, Alexander, dann verlassen wir Leningrad und ziehen in die Ukraine oder ans Schwarze Meer, irgendwohin, wo es nicht so kalt ist.« »Solch eine Gegend gibt es in Russland nicht«, erwiderte er. »Es liegt einfach zu weit im Norden und die Winter sind immer kalt.« »Gibt es irgendwo auf der Welt einen Ort, wo im Winter die Temperaturen nicht unter den Gefrierpunkt sinken?« »Arizona.«
»Arizona. Ist das in Afrika?«
»Nein.« Er seufzte leise. »Tania, weißt du, wo Arizona ist?« »In Amerika«, erwiderte Tatiana. Die einzige Wärme im Zimmer ging von dem kleinen Ofen aus. Und von Alexander. Sie drückte den Kopf an seinen Arm.
»Jä. Es ist ein amerikanisches Bundesland«, bestätigte er. »Neben Kalifornien. Es besteht hauptsächlich aus Wüste. Vierzig Grad im Sommer, zwanzig im Winter. Es friert dort nie. Und es schneit auch nie.«
»Hör auf«, sagte Dascha. »Du erzählst uns Märchen. Das kannst du mit Tatiana machen, ich bin schon zu alt dafür.« »Aber es ist die Wahrheit.« Mit geschlossenen Augen lauschte Tatiana dem Klang von Alexanders Stimme. Am liebsten wäre ihr gewesen, er hätte nie mehr aufgehört zu reden. Du hast eine schöne Stimme, Alexander, dachte sie.
»Das ist unmöglich«, sagte Dascha. »Was tun die Leute dort im Winter?«
»Sie ziehen langärmelige Hemden an.«
»Oh, hör auf«, entgegnete Dascha. »Jetzt übertreibst du aber.« Tatiana schob ihre Mütze hoch und blickte in das flackernde Feuer im Ofen, »Tatia«, sagte Alexander leise. »Du weißt, dass ich die Wahrheit sage. Möchtest du gern in Arizona leben, dem Land des kleinen Frühlings?« »Ja«, erwiderte sie.
Dascha fragte mit apathischer Stimme: »Wie hast du sie genannt?«
»Tatiana«, erwiderte Alexander.
Dascha schüttelte den Kopf, »Nein. Die Betonung war anders als bei Tatiana. Tatia. So hast du sie noch nie genannt.« »Wirklich, Alexander«, sagte Tatiana und zog sich die Mütze wieder über die Augen, »was ist nur in dich gefahren?« Dascha richtete sich auf. »Mir ist es egal. Nenn sie, wie du willst.« Sie ging zur Toilette.
Tatiana blieb neben Alexander sitzen, aber ihr Kopf lag nicht mehr auf seinem Arm.
»Tatia, Tatiascha, Tania«, flüsterte er, »kannst du mich hören?«
»Ich kann dich hören, Shura.«
»Leg deinen Kopf an meine Schulter. Bitte.«
Sie tat es.
»Hältst du noch durch?« »Das siehst du doch.«
»Ja, ich sehe es.« Er ergriff ihre vernarbte Hand und küsste sie.
»Mut, Tatiana. Mut.«
Ich liebe dich, Alexander. ; dachte Tatiana.
Am nächsten Tag kam Alexander abends zurück und sagte fröhlich: »Mädchen, ihr wisst doch, was für ein Tag heute ist, oder?«
Sie sahen ihn verständnislos an.
Tatiana war ein paar Stunden lang im Krankenhaus gewesen, sie konnte sich jedoch nicht mehr erinnern, was sie dort getan hatte.
Dascha wirkte noch ein bisschen verwirrter als am Tag zuvor. Sie versuchten zu lächeln, aber es gelang ihnen nicht. »Was für ein Tag ist denn heute?«, fragte Dascha. »Es ist Silvester!«, rief Alexander. Sie starrten ihn an.
»Seht mal, ich habe uns drei Dosen Fleisch mitgebracht.« Er grinste. »Für jeden eine. Und etwas Wodka. Aber nur einen kleinen Schluck. Ihr wollt sicher nicht so viel trinken.« Tatiana und Dascha blickten ihn immer noch verständnislos an. Schließlich sagte Tatiana: »Woher sollen wir denn überhaupt wissen, wann Mitternacht ist? Wir haben nur den Wecker, der schon seit Monaten nicht mehr richtig geht. Und das Radio funktioniert nicht.«
Alexander wies auf seine Armbanduhr. »Ich bin beim Militär. Ich weiß immer ganz genau, wie spät es ist. Und ihr beide müsst jetzt ein bisschen fröhlicher werden. So kann man doch nicht feiern.«
Sie hatten zwar keinen Tisch mehr, den sie decken konnten, aber sie legten das Fleisch auf ihre Teller, setzten sich vor die borsoika und aßen ihr Silvestermahl, das aus Büchsenfleisch, etwas Weißbrot und einem Löffel Butter bestand. Alexander schenkte Dascha Zigaretten und Tatiana ein kleines, hartes Bonbon, das sie sich glücklich in den Mund steckte. Dann plauderten sie leise miteinander, bis
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