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Die Liebenden von Leningrad

Die Liebenden von Leningrad

Titel: Die Liebenden von Leningrad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paullina Simons
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jemand überfällt?« Tatiana warf ihm einen liebevollen Blick zu und seufzte. »In Wahrheit, in meinem Herzen, komme ich nicht ohne dich zurecht«, sagte sie. »Ich schaffe es nicht.«
    »Ich weiß«, erwiderte Alexander. »Halt dich am Geländer fest.«
    Langsam stieg Tatiana die vereiste Treppe hinauf. Oben drehte sie sich noch einmal um. Alexander stand immer noch unten und sah ihr nach. Sie warf ihm einen Luftkuss zu.
    Am nächsten Morgen konnte Dascha nicht aufstehen. »Dascha, bitte.«
    »Ich kann nicht. Geh nur.«
    »Natürlich gehe ich, aber nicht allein, Dascha. Alexander ist nicht da.«
    »Nein.«
    Tatiana stopfte die Decken und den Mantel fest um sie. Sie wusste, dass Dascha nirgendwohin mehr gehen konnte. Sie hatte die Augen geschlossen und lag noch genauso im Bett, wie sie am Abend zuvor eingeschlafen war. Sie hatte die ganze Nacht über still dagelegen. Nur einmal hatte sie gehustet. »Bitte steh auf. Du musst aufstehen.«
    »Später«, erwiderte Dascha. »Ich kann jetzt einfach noch nicht.«
    Tatiana ging nach unten, um Wasser zu holen. Sie brauchte eine Stunde dazu. Dann machte sie Feuer in der borsoika , und als es brannte, kochte sie Dascha Tee.
    Nachdem sie ihr ein paar Löffel der dünnen, nur schwach gesüßten Flüssigkeit eingeflößt hatte, ging sie zum Rationsladen. Es war zehn Uhr morgens, aber es war immer noch dunkel. Um elf wird es hell, dachte Tatiana. Wenn ich mit dem Brot zurückkomme, ist es hell. » Unser tägliches Brot gib uns heute«, flüsterte sie vor sich hin. Wenn ihr die Zeile schon früher eingefallen wäre, dann hätte sie es seit September jeden Tag gesagt.
    Es herrschte jetzt immer Dunkelheit. War es Abend oder Nacht? Tatiana sah auf den Wecker, aber sie konnte die Zeiger nicht erkennen. Es gibt kein Licht mehr. Am Morgen ist es dunkel, wenn ich die Wassereimer die Treppe hinaufschleppe, es ist dunkel, wenn ich Daschas Gesicht wasche, in den Laden gehe, die Bomben fallen - immer ist es dunkel. Dann brennt wieder ein Haus ab und ich kann mich davor stellen und mich ein bisschen aufwärmen. So wie heute. Ich habe bis Mittag vor dem brennenden Haus gestanden und bin erst um eins ins Krankenhaus gegangen. Vielleicht brennt ja morgen ein anderes Gebäude. Aber zu Hause ist es dunkel.
    Warum sieht Dascha mich so an? Sie ist schon seit fünf Tagen nicht mehr richtig bei sich und seit drei Tagen ist sie nicht mehr aufgestanden. Ihre Augen sind so leer! Sie starrt mich an, als ob sie nicht wüsste, wer ich bin. »Dascha? Was ist los?«
    Dascha antwortete nicht. »Dascha!«
    »Warum schreist du denn so?«, fragte Dascha leise. »Warum siehst du mich so an?« »Komm her.«
    Tatiana kniete sich neben das Bett. »Was ist los, Liebes?«, fragte sie zärtlich. »Soll ich dir etwas holen?« »Wo ist Alexander?«
    »Ich weiß nicht. Vermutlich am Ladogasee.«
    »Wann kommt er zurück?«
    »Keine Ahnung. Vielleicht morgen?«
    Dascha starrte sie an.
    »Was ist denn los?«, fragte Tatiana.
    »Willst du, dass ich sterbe? «
    »Was?« Tatiana war entsetzt. »Natürlich nicht! Du bist doch meine Schwester!« »Ja.«
    »Was ist denn los?« »Ich brauche dich, Tania.« »Ich weiß.«
    »Und wen brauchst du?«, fragte Dascha flüsternd. Tatiana blinzelte. »Dich«, erwiderte sie dann unhörbar.

»Ich habe dich gesehen, Tatiana«, sagte Dascha im Dunkeln. »Ich habe dich und ihn zusammen gesehen.« »Wovon redest du?« Tatianas Herzschlag setzte aus. »Ich habe euch gesehen. Ihr wusstet nicht, dass ich euch beobachte. Aber ich habe euch vor fünf Tagen an der Post gesehen.« Tatiana, die an Daschas Bett kniete, dachte nach. Was war an der Post geschehen? Sie konnte sich nicht erinnern. »Du weißt doch, dass wir zusammen zur Post gegangen sind. Wir haben es dir doch gesagt.«
    »Davon rede ich nicht. Er geht überall mit dir hin.« »Um uns zu beschützen.« »Nicht uns.«
    »Doch, Dascha, uns. Er macht sich Sorgen um uns. Du weißt, warum er mich begleitet. Und hast du vergessen, dass er uns zu essen gebracht hat?«
    »Das meine ich doch alles nicht«, erwiderte Dascha müde. »Wenn er bei mir ist, stiehlt niemand unser Brot. Niemand nimmt mir unsere Lebensmittelkarten weg. Was glaubst du, wie ich dir sonst die Lebensmittel hätte bringen können?« »Darüber will ich nicht reden.«
    »Dascha, er bringt mir das Brot von toten Soldaten, damit ich es dir gebe, und wenn es keins gibt, dann überlässt er mir seine halbe Ration für dich.«
    »Tatiana, er bringt sie dir, damit du ihn liebst.«

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