Die Liebenden von Leningrad
Mama.«
»Dascha, erinnerst du dich noch an die Zeit in Luga? Weißt du noch, wie Tania mal eine Gräte im Hals stecken geblieben ist und wir sie nicht herausbekommen konnten?« Dascha erinnerte sich daran. »Sie war damals fünf.« »Wer hat sie denn dann herausgezogen, Mama?« »Pascha. Er hatte so kleine Hände. Er hat einfach seine Hand in deinen Hals gesteckt und die Gräte herausgezogen.« »Mama«, sagte Dascha, »weißt du noch, wie Tania auf dem Ilmensee aus dem Boot gefallen ist und wir alle hinterhergesprungen sind, weil wir dachten, sie könne nicht schwimmen, aber sie paddelte schon munter durch das Wasser?« Mama nickte. »Damals war sie zwei.«
»Mama«, sagte Tatiana, »und weißt du auch noch, wie ich das große Loch im Garten gegraben habe, um eine Falle für Pascha zu bauen, und dann vergaß, es wieder zuzuschütten, und du bist hineingefallen?«
»Sprich nicht davon«, erwiderte Mama. »Das macht mich heute noch wütend.« Sie versuchten zu lachen.
»Tania«, sagte Mama, »als du und Pascha zur Welt kamt, waren wir in Luga, und als sich die ganze Familie um Pascha drängte und alle sagten, was für ein hübscher Junge er sei, hat Dascha dich mit ihren sieben Jahren auf den Arm genommen und gesagt: >Ihr könnt alle den Schwarzen haben, ich nehme die Weiße. Das Baby gehört mir.< Und wir haben sie alle geneckt und gesagt: >Na gut, Dascha, willst du sie haben? Du kannst ihr einen Namen geben.<« Mamas Stimme schwankte. »Und unsere Dascha sagte: >Ich möchte mein Baby Tatiana nennen ...<«
Wieder ein Tag, wieder eine Vitaminspritze für Tatiana, aus deren Fingerspitzen das Blut auf die zweihundert Gramm Brot tröpfelte, die sie für ihre Mutter und ihre Schwester aufschnitt. Einen Tag später fiel eine Bombe auf das Dach des Hauses in der Fünften Sowjet. Der vierte Stock brannte aus. Bildete Tatiana es sich nur ein oder war es wirklich ruhiger in der Stadt? Entweder wurde sie langsam taub oder es fielen nicht mehr so viele Bomben. Natürlich war noch jeden Tag Alarm, aber er dauerte nicht mehr so lange und die Bombardierungen waren auch nicht mehr so heftig, als ob die Deutschen langsam genug von der Sache hätten. Andererseits gab es ja auch kaum noch etwas zu bombardieren.
Mama ließ den weißen Tarnanzug, an dem sie nähte, sinken. Sie saß vor dem kleinen Feuer der borsoika und sagte auf einmal: »Ich kann nicht mehr. Ich kann einfach nicht mehr.« Ihr Kopf fiel zur Seite. Die Augen blieben geöffnet. Noch ein paar kurze, keuchende Atemzüge, dann war es vorbei. Tatiana und Dascha knieten sich neben ihre Mutter. »Ich wünschte, wir würden ein Gebet kennen, Dascha.« »Ich glaube, ich kenne etwas, das Glaubensbekenntnis heißt, aber auch nur den Teil, wo es heißt: Unser tägliches Brot gib uns heute.«
Tatiana legte ihrer Mutter die Hand auf den Schoß. »Wir beerdigen Mama mit ihrer Näharbeit.«
»Wir werden sie in ihrer Näharbeit beerdigen«, korrigierte Dascha sie mit schwacher Stimme. »Sieh mal, sie hat sich selbst einen Sack genäht.«
»Oh Herr«, sagte Tatiana. » Unser tägliches Brot gib uns heute Sie schwieg. »Wie geht es wohl weiter, Dascha?« »Mehr weiß ich auch nicht. Wie wäre es mit Amen?« »Amen«, sagte Tatiana.
Zum Abendessen schnitten sie das Brot in drei Teile. Sie aßen beide ihren Anteil und ließen den ihrer Mutter auf dem Teller zurück.
In der Nacht lagen sie eng umschlungen im Bett. »Verlass mich nicht, Tania. Ich schaffe es nicht ohne dich.«
»Ich verlasse dich nicht, Dascha. Jede von uns braucht jetzt einen anderen Menschen. Einen Menschen, der uns daran erinnert, dass wir menschliche Wesen und keine Tiere sind.« »Nur noch wir sind übrig geblieben, Tania«, sagte Dascha. »Du und ich.«
Tatiana drückte ihre Schwester an sich. »Du. Ich. Und Alexander. «
Ein paar Tage später kam Alexander zurück. Die dunklen Ringe unter seinen Augen und sein dichter schwarzer Bart verliehen ihm ein verwegenes Aussehen, aber er schien sich ganz gut gehalten zu haben. Tatiana freute sich darüber. Er nahm Dascha in die Arme und Tatiana stand dahinter und sah ihnen zu. »Wie geht es dir?«, fragte sie mit schwacher Stimme. »Mir geht es gut«, erwiderte er. »Wie geht es denn meinen Mädchen?«
»Nicht so gut, Alexander«, sagte Dascha. »Nicht so gut. Und unsere Mutter ... Sie ist seit fünf Tagen tot. Es kommt niemand mehr von der Stadtverwaltung. Aber allein können wir sie nicht hochheben.«
Hinter Daschas Rücken ging Alexander an Tatiana vorbei
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