Die Liebenden von Leningrad
Flughäfen in Ordnung bringen. Die Geschütze sollten so schnell wie möglich in Position gebracht werden.« Kurz darauf hörte sie Papa sagen: »Oh, unsere Tania arbeitet bei Kirow. Sie hat gerade ihren Schulabschluss gemacht - ein Jahr zu früh! Nächstes Jahr, wenn sie achtzehn wird, möchte sie an die Leningrader Universität gehen. Man sollte es nicht meinen, wenn man sie so sieht... Das Examen ein ganzes Jahr früher ... Habe ich das schon erwähnt?« Tatiana musste lächeln.
»Ich weiß nicht, warum sie unbedingt bei Kirow arbeiten wollte«, warf Mama ein. »Es ist so weit weg, praktisch außerhalb von Leningrad. Sie kann noch nicht allein auf sich aufpassen«, fügte sie hinzu.
»Wie sollte sie auch, wo du dich ihr ganzes Leben lang immer um alles gekümmert hast?«, giftete Papa.
»Tania!«, rief Mama. »Spül das Geschirr vom Abendessen, ja?«
In der Küche räumte Tatiana gerade die restlichen Einkäufe weg. Als sie die Kisten wieder hinaustrug, warf sie erneut einen Blick auf Alexanders Rücken. Ihr gingen tausend Dinge durch den Kopf. Karelien, die Finnen und ihre Grenzen, die Panzer und die Übermacht der Waffen, die sumpfigen Wälder; in denen man sich so schwer zurechtfand, und der Krieg mit Finnland im Jahre 1940 und...
Sie war gerade wieder in der Küche, als Alexander, Dascha und Dimitri aus dem Zimmer nebenan kamen. Alexander sah sie nicht an.
»Tania, verabschiede dich«, sagte Dascha. »Die beiden wollen gehen.«
Tatiana wäre am liebsten unsichtbar geworden. »Auf Wiedersehen«, sagte sie leise und wischte sich die Hände an ihrem weißen Kleid ab. »Noch einmal danke für eure Hilfe.« Dascha hatte sich bei Alexander eingehakt. »Ich bringe dich hinunter, ja?«
Dimitri trat zu Tatiana und fragte sie, ob er sie noch einmal besuchen dürfe. Ob sie ja gesagt hatte, ob sie genickt hatte, sie konnte es anschließend nicht mehr genau sagen. In diesem Augenblick war sie viel zu weit weg mit ihren Gedanken.
Alexander warf ihr einen Blick zu und sagte: »Es war schön, dich kennen zu lernen, Tatiana.«
Tatiana blieb allein in der Küche zurück. Mama trat zu ihr und sagte: »Der Offizier hat seine Mütze vergessen.« Tatiana nahm die Mütze, aber noch bevor sie auf den Flur laufen konnte, war Alexander schon zurückgekommen. »Ich habe meine Mütze vergessen«, sagte er. Tatiana gab sie ihm wortlos und ohne ihn anzusehen. Als er die Mütze entgegennahm, ließ er seine Finger einen Moment auf ihrer Hand ruhen. Sie blickte ihn traurig an. Was taten Erwachsene in einem solchen Fall? Sie hätte am liebsten geweint. Aber sie konnte nur den Kloß in ihrem Hals hinunterschlucken und sich zusammenreißen.
»Es tut mir Leid«, sagte Alexander so leise, dass Tatiana schon dachte, sie habe sich verhört. Dann drehte er sich um und ging. Ihre Mutter blickte sie stirnrunzelnd an. »Was soll das?« »Sei froh, dass wir Lebensmittel haben, Mama«, sagte Tatiana ausweichend und begann, sich etwas zu essen zu machen. Sie strich Butter auf eine Scheibe Brot und biss geistesabwesend hinein. Dann sprang sie auf und warf den Rest weg. Sie konnte nirgendwohin gehen. Weder in die Küche noch in den Flur noch in das zweite Zimmer. Sie hätte so gern ein eigenes kleines Zimmer gehabt, in das sie sich zurückziehen und Tagebuch schreiben konnte!
Aber Tatiana hatte kein eigenes Zimmer. Also besaß sie auch kein Tagebuch. Tagebücher waren etwas sehr Persönliches und enthielten nur die intimsten Gedanken. Dafür war jedoch in Tatianas Welt kein Raum. Man musste alle persönlichen Gedanken im Kopf behalten, während man dicht neben einer anderen Person lag, auch wenn diese Person die eigene Schwester war. Leo Tolstoi, einer ihrer Lieblingsschriftsteller, hatte als Junge, als Heranwachsender und als junger Mann Tagebuch geführt. Dieses Tagebuch war dazu bestimmt gewesen, von Tausenden von Menschen gelesen zu werden. Solch ein Tagebuch wollte Tatiana nicht führen. Sie wollte ein Tagebuch, in dem Alexanders Name stehen konnte, ohne dass es jemand lesen würde. Sie wollte ein eigenes Zimmer haben, wo sie seinen Namen laut aussprechen konnte, ohne dass es jemand hören konnte.
Alexander ...
Sie ging ins Zimmer ihrer Eltern, setzte sich neben ihre Mutter und aß ein Plätzchen.
Ihre Eltern redeten davon, dass es Dascha nicht gelungen war, Geld von der Bank zu holen. Außerdem sprachen sie über die Evakuierung, aber mit keinem Wort erwähnten sie Pascha. Und Tatiana sprach natürlich nicht von Alexander. Ihr Vater
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