Die Liebenden von Leningrad
weiter. Alexander musste sich aus seinen Gedanken reißen. »Wie bitte? Ich habe dich nicht verstanden.« »Ich fragte, ob du glaubst, dass sie eine junge Siebzehnjährige oder eine alte Siebzehnjährige ist?«, entgegnete Dimitri geduldig.
»Auf jeden Fall zu jung für dich, Dimitri«, erwiderte Alexander kühl.
Dimitri schwieg. »Sie ist sehr hübsch«, sagte er schließlich. »Ja. Und trotzdem zu jung für dich.«
»Was kümmert dich das denn? Du hast doch was mit ihrer älteren Schwester. Ich werde mich an die jüngere heranmachen.« Dimitri kicherte. »Warum nicht? Wir könnten einen flotten Vierer bilden, findest du nicht? Zwei Freunde, zwei Schwestern ... das passt doch prima ...«
»Dima«, sagte Alexander, »was ist denn mit Elena? Sie hat mir gesagt, dass sie dich mag. Ich kann euch nächste Woche miteinander bekannt machen.«
Dimitri machte eine wegwerfende Geste und erwiderte: »Hast du wirklich mit Elena geredet?« Er lachte. »Nein, solche wie Elena kann ich dutzendweise bekommen. Aber Tatiana ist nicht wie die anderen.« Lächelnd rieb er sich die Hände. In Alexanders Gesicht bewegte sich kein Muskel. Er ging nur immer schneller die Straße entlang.
Dimitri begann zu laufen. »Alexander, warte doch! Wegen Tania ... ich wollte doch nur sichergehen ... dir macht es doch nichts aus, oder?«
»Natürlich nicht, Dima«, erwiderte Alexander gleichmütig. »Warum sollte es mir etwas ausmachen?« »Genau!« Er schlug Alexander auf den Rücken. »Du bist ein guter Mann. Noch eine Frage - soll ich irgendeine Unterhaltung arrangieren für ...« »Nein!«
»Aber du hast die ganze Nacht lang Wache! Komm schon, wir amüsieren uns wie immer.«
»Nein, heute Abend nicht.« Er schwieg. »Nicht schon wieder.« »Aber ...«
»Ich komme zu spät«, sagte Alexander. »Ich laufe schon mal vor. Wir sehen uns in der Kaserne.«
Als Tatiana am nächsten Morgen aufwachte, sah sie als Erstes Alexanders Gesicht vor ihrem inneren Auge. Sie sprach nicht mit Dascha und versuchte, sie nicht anzusehen, als diese ihr zum Abschied alles Gute zum Geburtstag wünschte.
»Ja, Taneschka, herzlichen Glückwunsch«, sagte auch Mama im Hinauseilen. »Vergiss nicht, abzuschließen.«
Papa küsste sie auf den Scheitel und sagte: »Dein Bruder wird heute auch siebzehn.«
»Ich weiß, Papa.«
Papa arbeitete als Ingenieur bei den Leningrader Wasserwerken. Mama war Näherin in einer Schneiderei für Uniformen. Dascha war Sprechstundenhilfe bei einem Zahnarzt. Seit sie vor zwei Jahren die Universität verlassen hatte, arbeitete sie dort. Anfangs hatte sie eine Affäre mit ihrem Chef gehabt, aber das war schon seit einiger Zeit vorbei. Dascha blieb dort, weil sie die Arbeit mochte. Sie wurde gut bezahlt und sie brauchte nicht viel dafür zu tun.
Tatiana ging zu Kirow, wo sie den ganzen Vormittag in Versammlungen verbrachte und patriotischen Reden lauschte. Der Leiter ihrer Abteilung, Sergei Krasenko, fragte, ob jemand der Armee der Freiwilligen beitreten wolle, um im Süden des Landes zum Schutz gegen die verhassten Deutschen Gräben auszuheben.
Heute waren die Deutschen verhasst. Gestern wurden sie noch geliebt. Was würde morgen sein? Gestern hatte Tatiana Alexander kennen gelernt. Krasenko sprach weiter. Die Befestigungen nördlich von Leningrad, entlang der alten Grenze zu Finnland, mussten in Ordnung gebracht werden. Die Rote Armee vermutete, dass die Finnen sich Karelien zurückholen wollten. Tatiana horchte auf. Karelien, Finnland ... darüber hatte Alexander gestern gesprochen. Alexander ... Tatiana versank wieder in ihre Grübeleien. Die Frauen lauschten Krasenko aufmerksam, aber keine sprang auf, um sich freiwillig zu melden. Niemand, außer Tamara, die eine noch niedrigere Position hatte als Tatiana. »Was habe ich schon zu verlieren«, flüsterte sie.
An diesem Tag erhielten sie vor dem Mittagessen Schutzbrillen, ein Netz für die Haare und einen braunen Kittel. Nach dem Mittagessen musste Tatiana nicht mehr Löffel und Gabeln verpacken. Stattdessen kamen kleine zylindrische Metallkugeln über das Band gefahren. Immer je zwölf fielen in kleine Pappkartons, und Tatianas Aufgabe war es, die Kartons in große Holzkisten zu stapeln.
Um fünf zog Tatiana ihren Kittel aus und nahm die Kopfbedeckung und die Schutzbrille ab. Sie spritzte sich Wasser ins Gesicht, kämmte ihr Haar und verließ das Gebäude. Sie ging den Prospekt Stachek entlang und an der berühmten Kirow-Mauer vorbei, einem sieben Meter hohen Betongebilde, das
Weitere Kostenlose Bücher