Die Liebenden von Leningrad
Lebensmittel kaufen.« »Woher kommen Sie?«, fragte Tatianas Vater Alexander. »Aus der Gegend um Krasnodar«, erwiderte er. Papa schüttelte ungläubig den Kopf. »Ich habe in meiner Jugend in Krasnodar gewohnt. Es hört sich nicht so an, als wären Sie von dort.«
»Nun, es stimmt aber«, entgegnete Alexander sanft. Um das Thema zu wechseln, fragte Tatiana: »Alexander, möchtest du lieber einen Tee? Ich kann dir einen Tee kochen.« Er rückte näher zu ihr heran und sie hielt den Atem an. »Nein, danke«, sagte er freundlich. »Ich kann nicht lange bleiben, Tania. Ich muss zurück.«
Tatiana zog ihre Sandalen aus. »Entschuldigt«, sagte sie. »Meine Füße sind ...« Sie lächelte. Die Blasen an den großen und kleinen Zehen schmerzten entsetzlich. Sie bluteten bereits. Alexander blickte kopfschüttelnd auf ihre Füße. Dann schaute er sie an und wieder erschien dieser seltsame Ausdruck in seinen Mandelaugen. »Barfuß läuft es sich besser«, sagte er leise. Dascha kam ins Zimmer und blieb abrupt stehen, als sie die beiden Soldaten bemerkte.
Sie sah gesund und strahlend aus, viel zu gesund und strahlend nach Tatianas Geschmack, aber bevor sie etwas sagen konnte, rief Dascha aus: »Alexander! Was machst du denn hier?« Tatiana schaute Alexander fassungslos an und fragte: »Du kennst... ?« Mitten im Satz brach sie ab, denn sie registrierte, wie er im Moment des Erkennens unglücklich das Gesicht verzog. Tatiana blickte von Dascha zu Alexander. Sie wurde blass. Oh nein hätte sie am liebsten gesagt. Oh nein, wie ist das nur möglich?
Mittlerweile war Alexanders Gesichtsausdruck undurchdringlich geworden. Er lächelte Dascha an und antwortete, ohne Tatiana anzuschauen: »Ja. Dascha und ich kennen uns.« »Das kann man wohl sagen«, erwiderte Dascha lachend und zwickte ihn in den Arm.
Tatiana sah sich im Zimmer um, als wolle sie sich vergewissern, dass die anderen mitbekommen hatten, was hier gerade geschah. Dimitri aß gerade eine Gurke. Deda hatte die Brille aufgesetzt und las die Zeitung. Papa trank noch einen Wodka. Mama öffnete eine Schachtel mit Plätzchen und Babuschka hatte die Augen geschlossen. Offenbar hatte niemand etwas bemerkt.
Mama sagte: »Die Soldaten haben Tatiana begleitet. Sie haben Lebensmittel gebracht.«
»Tatsächlich?«, erwiderte Dascha und blickte Alexander neugierig an. »Woher kennst du meine Schwester?« »Ich kenne sie gar nicht«, sagte Alexander. »Ich habe sie nur im Bus getroffen.«
»Du hast meine kleine Schwester im Bus getroffen?«, fragte Dascha. »Unglaublich. Das ist ja wie eine Fügung des Schicksals!« Sie zwickte ihn abermals leicht in den Arm.
»Setzen wir uns«, schlug Alexander vor. »Ich glaube, jetzt möchte ich doch etwas trinken.« Er trat zum Tisch, während Dascha und Tatiana an der Tür stehen blieben.
Dascha beugte sich vor und flüsterte ihr zu: »Er ist der, von dem ich dir erzählt habe!«
»Was?«
»Heute Morgen«, zischte Dascha. » Heute Morgen?«
»Warum bist du denn so begriffsstutzig? Er ist es!« Endlich verstand Tatiana. Sie war nicht begriffsstutzig. Für sie gab es keinen Morgen. Es gab nur die Bushaltestelle und die Gewissheit, dass sie Alexander kennen gelernt hatte. »Oh«, erwiderte sie betont gleichgültig. Dabei war sie vollkommen fassungslos.
Dascha setzte sich auf den Stuhl neben Alexander. Mit einem traurigen Blick auf seinen Rücken machte sich Tatiana daran, die Lebensmittel wegzuräumen.
»Taneschka!«, rief ihre Mutter ihr nach, »räum die Sachen gleich richtig ein, nicht so wie sonst.«
Tatiana hörte Alexander sagen: »Gießen Sie mir einfach das Glas voll.«
»Na bitte«, erwiderte Papa und schenkte ihm ein. »Prost! Auf die neuen Freunde.«
»Auf die neuen Freunde«, wiederholten alle. Dimitri sagte: »Komm, Tania, trink auch mit uns.« Tatiana trat näher, aber Papa erlaubte ihr nicht, Wodka zu trinken, weil sie noch so jung war. Dimitri bat für seine Voreiligkeit um Entschuldigung und Dascha sagte, sie würde für sich und ihre Schwester trinken. Papa erwiderte: »Als ob du das nicht schon die ganze Zeit tätest!«
Alle lachten, außer Babuschka, die ein Schläfchen halten wollte, und Tatiana, die das Ende dieses Tages sehnlichst herbeiwünschte.
Während sie die Kisten nacheinander in die Küche brachte und ausräumte, vernahm sie Bruchstücke der Unterhaltung. »... wir müssen die Arbeit an den Befestigungsanlagen beschleunigen ...«
»... Truppen an die Grenzen geschickt werden ...« »... und dann die
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