Die Liebenden von Leningrad
eigenen Brief versuchen würden, zu Alexander Kontakt aufzunehmen, wenn sie ohne ein Wort verschwand. Deshalb erzählte sie ihnen, dass sie in Molotow im Krankenhaus arbeiten würde. Naira Michailowna fragte daraufhin, warum sie denn die Briefe nicht einfach von Molotow abschickte. Tatiana erklärte ihr, dass es Alexander nicht recht sei, wenn sie Lazarewo verließ. Er würde bestimmt wütend werden, wenn er erführe, dass sie in der Stadt arbeitete. Und da sie ihn nicht beunruhigen wollte, wäre es ihr lieber, er sähe einen vertrauten Stempel auf dem Brief. »Du weißt doch, wie fürsorglich er immer ist, Naira Michailowna.«
»Fürsorglich und unvernünftig!« Naira schüttelte missbilligend den Kopf.
Nachdem Tatiana sich neue Kleider genäht und Wodka und tuschonka in ihren Rucksack gepackt hatte, war sie bereit zum Aufbruch. Dusia sprach ein Gebet für sie und Naira weinte. Axinja beugte sich zu ihr und flüsterte: »Du bist verrückt!« Verrückt nach ihm, dachte Tatiana. Sie trug eine dunkelbraune Hose, braune Strümpfe und Stiefel und einen Wintermantel in der gleichen Farbe. Ihre hellblonden Haare hatte sie unter einem Kopftuch verborgen. Sie wollte so wenig Aufmerksamkeit erregen wie möglich. Das Geld hatte sie in den Saum ihrer Hose eingenäht. Bevor sie aufbrach, zog sie den Ehering vom Finger, schlang ein geflochtenes Band hindurch und hängte ihn sich um den Hals. »So bist du meinem Herzen noch näher, Shura«, flüsterte sie.
Auf dem Weg nach Molotow kam sie an der Lichtung mit der Hütte vorbei. Einen Moment lang hielt sie inne. Aber dann schüttelte sie energisch den Kopf und ging weiter. Sie wollte keine Zeit verlieren.
Seit Vova die Truhe und den Tisch mit der Nähmaschine zu Naira gebracht hatte, war sie nicht mehr zu der Hütte zurückgekehrt. Vova hatte die Fenster wieder zugenagelt und das Holz, das Alexander für sie gesammelt hatte, ebenfalls zu Nairas Haus geschafft.
In Molotow suchte Tatiana zuerst die Kommandantur auf, um nachzufragen, ob Alexanders Geld für September eingetroffen sei. Überraschenderweise war es tatsächlich angekommen. Ein Brief oder ein Telegramm von ihm lag jedoch nicht für sie bereit. Sie steckte die fünfzehnhundert Rubel ein, und während sie noch überlegte, warum Alexander ihr wohl Geld anwies, aber nicht schrieb, fiel ihr wieder ein, wie lange Babuschkas Briefe immer gebraucht hatten. Vielleicht würde sie ja eines Tages wirklich mehrere Briefe auf einmal erhalten. Am Bahnhof in Molotow erklärte Tatiana dem Beamten, der die Pässe kontrollierte, dass in Leningrad ein Mangel an Krankenschwestern herrsche und sie dorthin fahren wolle, um zu helfen. Sie zeigte ihm den Stempel des Grecheskij-Krankenhauses in ihrem Ausweis. Er brauchte ja nicht zu wissen, dass sie dort lediglich geputzt und Säcke für die Toten genäht hatte. Damit er sie passieren ließ, gab sie ihm eine Flasche Wodka. Er fragte sie nach dem Schreiben vom Krankenhaus, in dem sie aufgefordert wurde, nach Leningrad zurückzukehren. Überzeugend erklärte sie ihm, es sei verbrannt, sie habe jedoch ihre Arbeitsnachweise vom Grecheskij-Krankenhaus und von ihrem Einsatz als Freiwillige vorzuweisen.
Offenbar reichten ihm diese Auskünfte, denn er stempelte Tatianas Pass, und so konnte sie sich eine Fahrkarte kaufen. Bevor sie in den Zug stieg, lief sie noch schnell zu Sofia, der Frau des Juweliers, die nach schier endlosem Suchen die beiden Hochzeitsfotos hervorkramte. Rasch steckte Tatiana sie ein und rannte zurück zum Bahnhof.
Der Zug, den sie bestieg, war wesentlich komfortabler als der, mit dem sie hergekommen war. Es handelte sich um einen Personenzug.
Als er den Bahnhof verließ, blickte Tatiana auf die Kama und fragte sich, ob sie Lazarewo wohl jemals wiedersehen würde.
Nachdem Tatiana mehrere Tage lang in verschiedenen Zügen das Land durchquert hatte, erreichte sie schließlich völlig übermüdet Lodejnoje Pole, das vierzig Kilometer vom Ladogasee entfernt lag.
In einem Lokal aß Tatiana eine Suppe mit Brot und lauschte der Unterhaltung einiger Lastwagenfahrer am Nebentisch. Offenbar hatten die Deutschen ihre Angriffe auf Leningrad eingestellt und hatten ihre Flieger und die Artillerie fast vollständig an die Front nach Wolkow abgezogen.
Einer der Männer fragte: »Habt ihr von unserer 861. Division gehört? Sie haben den ganzen Tag unter deutschem Feuer gestanden, und dabei sind mehr als die Hälfte der Soldaten und alle kommandierenden Offiziere gefallen!« »Das ist doch
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