Die Liebenden von Leningrad
eine borsoika ausgegeben, damit sie es warm im Zimmer hatte, aber sie konnte keine finden. Langsam ging sie über den Newskij am Hotel Europa vorbei zur Michailowskaja Ulitsa, überquerte dort die Straße und setzte sich im Italienischen Garten auf die Bank, auf der Alexander ihr von Amerika erzählt hatte. Selbst als die ersten Bomben fielen, rührte sie sich nicht von der Stelle. Eine Bombe fiel auf die Straße und explodierte in einer schwarzen Flamme. Alexander wäre sehr wütend, wenn er wüsste, dass ich hier bin, dachte Tatiana, als sie endlich aufstand und nach Hause ging. Wenn er überhaupt noch am Leben war ...
Sie fand wieder Arbeit im Grecheskij-Krankenhaus. Sie hatte Recht gehabt - die Krankenhäuser brauchten dringend Personal. Der Verwaltungsoffizier sah ihre Papiere an und fragte sie, ob sie Krankenschwester gewesen sei. Tatiana antwortete, sie sei Lernschwester gewesen und sie könne in kürzester Zeit ihre Kenntnisse wieder auffrischen. Sie bat darum, auf der Intensivstation arbeiten zu dürfen. Dort gab man ihr eine weiße Schwesterntracht, und eine neunstündige Schicht lang arbeitete sie mit einer Krankenschwester namens Elisaweta zusammen. Darauf folgte eine weitere neunstündige Schicht mit einer Krankenschwester namens Maria.
Nachdem sie zwei Wochen lang jeden Tag achtzehn Stunden gearbeitet hatte, durfte Tatiana schließlich selbständig die Patienten versorgen und bekam sonntagnachmittags frei. Sie nahm all ihren Mut zusammen, um zur Pawlow-Kaserne zu gehen.
Tatiana wollte nur wissen, ob es Alexander gut ging und wo er stationiert war.
Sie kannte den Wachtposten am Tor nicht; sein Name war Viktor Burenitsch. Aber der junge Soldat war freundlich und half ihr bereitwillig. Er schlug im Dienstbuch nach und teilte ihr mit, dass Alexander zurzeit nicht in der Kaserne sei. Leider wisse er auch nicht, wo er sich gerade aufhalte. »Geht es ihm denn wenigstens gut, soweit Sie wissen?«, fragte Tatiana. Der Wachtposten zuckte mit den Schultern.
Tatiana fragte, ob Dimitri Chernenko noch am Leben sei. Ja, erwiderte der Soldat, das sei er. Er hielte sich zwar im Moment nicht in der Garnison auf, käme aber regelmäßig mit Waren vorbei.
Tatiana überlegte, wen sie sonst noch kannte. »Ist Anatoli Marasow hier?«, fragte sie schließlich. Zum Glück war er da und kam sofort zum Tor. »Tatiana!« Er schien sich zu freuen, sie zu sehen. »Was für eine Überraschung! Alexander hat mir erzählt, dass er Sie mit Ihrer Schwester evakuiert hat.« Er schwieg. »Das mit Ihrer Schwester tut mir Leid.«
»Danke, Leutnant«, erwiderte sie, und unwillkürlich traten ihr Tränen in die Augen. Sie war sehr erleichtert, denn wenn Marasow Alexander so beiläufig erwähnte, dann bedeutete das, dass alles in Ordnung war.
»Möchten Sie mit mir spazieren gehen?«, fragte Marasow. »Ich habe ein wenig Zeit.«
Sie schlenderten zum Palastplatz. »Sind Sie hierher gekommen, um Dimitri zu sehen? Er ist nicht mehr in meiner Einheit.« »Ich ... ich weiß«, log sie stammelnd. »Ich weiß, dass er verwundet war, und habe ihn vor ein paar Monaten in Kobona getroffen.« Zögernd fügte sie hinzu: »Sind Sie immer noch in ... Alexanders Kompanie?«
»Nein. Alexander hat keine Kompanie mehr. Er war verwundet ...« Marasow brach ab, als Tatiana taumelte. »Alles in Ordnung?«
»Ja, tut mir Leid. Ich bin gestolpert«, erwiderte sie und hielt sich den Bauch. Sie hatte das Gefühl, als müsse sie gleich in Ohnmacht fallen, aber sie wollte sich unbedingt zusammenreißen, »Was ist denn passiert?«
»Er hat sich bei einem Angriff im September die Hände verbrannt. « »Die Hände?«
»Ja. Verbrennungen zweiten Grades. Er konnte wochenlang nicht einmal eine Tasse halten. Jetzt geht es ihm aber wieder besser.«
»Wo ist er?«
»Wieder an der Front.«
Tatiana hielt es nicht mehr aus. »Leutnant, ich glaube, ich muss jetzt wirklich wieder zurück.«
»Ja, gut«, erwiderte Marasow verwirrt. »Warum sind Sie überhaupt nach Leningrad zurückgekommen?« »Es gibt hier kaum Krankenschwestern, und ich möchte gern als Krankenschwester arbeiten.« Sie beschleunigte ihre Schritte. »Stehen Sie in Schlüsselburg?«
»Ja. Wir haben eine neue Kampfbasis für die Leningrader Front, oben in Morosowo ...«
»Morosowo? Hören Sie ... ich freue mich, dass es Ihnen gut geht. Was steht für Sie als Nächstes auf dem Plan?« Er zuckte mit den Schultern. »Wir haben so viele Männer verloren, als wir versuchten, die Blockade zu brechen, dass
Weitere Kostenlose Bücher