Die Liebenden von Leningrad
noch gar nichts!«, rief ein anderer aus. »Habt ihr nicht gehört, wie viele Männer Meretzkow im August und im September in Wolkow verloren hat? Es gab hundertdreißigtausend Tote, Verwundete und Vermisste!« »Das soll viel sein?«, ereiferte sich ein anderer. »In Moskau ...« Tatiana hatte genug Schreckliches gehört, aber sie brauchte noch mehr Informationen.
Also mischte sie sich in das Gespräch ein. Dabei erfuhr sie, dass die Boote mit den Lebensmitteln, die über den Ladogasee nach Leningrad fuhren, von einem kleinen Ort namens Sjastroj ablegten, ungefähr zwanzig Kilometer nördlich der Wolkow-Front. Bis nach Sjastroj waren es von Lodejnoje Pole aus noch hundert Kilometer.
Tatiana überlegte kurz, ob sie die Männer bitten sollte, sie mitzunehmen, entschied sich aber dagegen, weil sie ihr nicht gefielen. Außerdem hatte einer sie trotz ihres hässlichen braunen Kopftuchs so seltsam angesehen ...
Also bedankte sie sich bei ihnen für die Auskunft und marschierte los. Zum Glück trug sie Alexanders P-38 bei sich. Für die hundert Kilometer nach Sjastroj brauchte Tatiana drei Tage. Es war Anfang Oktober und schon kalt, aber es war noch kein Schnee gefallen, und die Straße war gepflastert. Zahlreiche andere Menschen gingen dieselbe Strecke - Dorfbewohner, Flüchtlinge, herumziehende Bauern und gelegentlich auch Soldaten, die wieder zurück an die Front mussten. Sie wanderte auch nachts. Dann war es ruhiger, und nach elf Uhr fielen auch keine Bomben mehr. Nach ein paar Stunden suchte sich Tatiana immer einen Schuppen, in dem sie schlafen konnte. Eines Abends übernachtete sie bei einer Familie, die ihr etwas zu essen und ihren ältesten Sohn anbot. Sie nahm das Essen an, lehnte den Sohn ab und gab ihnen stattdessen Geld.
Zehn Kilometer westlich von Sjastroj, am Ufer des Ladogasees, entdeckte Tatiana ein kleines Boot, das zur Überfahrt über den See bereitgemacht wurde. Der Schiffer löste gerade das Seil. Kurz bevor er ablegte, rannte Tatiana auf ihn zu und erzählte ihm, sie habe Nahrungsmittel für ihre Familie in Leningrad dabei. Zum Beweis holte sie fünf Dosen tuschonka und eine Flasche Wodka aus ihrem Rucksack. Sehnsüchtig betrachtete der Schiffer den Wodka, und Tatiana schlug ihm vor, er könne ihn behalten, wenn er sie mit über den See nähme. Dankbar griff er nach der Flasche. »Aber ich warne dich«, sagte er, »es wird eine schlimme Überfahrt. Wir sind lange unterwegs, und die Deutschen bombardieren die Boote ständig.« »Ich weiß«, erwiderte sie. »Ich bin bereit.« Sie kamen ohne Zwischenfall über den See.
In Osinowetz, nördlich von Kokorewo, bot Tatiana einem Lastwagenfahrer ihre restlichen Lebensmittel an - vier Dosen tuschonka und eine Flasche Wodka -, wenn er sie nach Leningrad mitnähme. Er ließ sie vorne neben sich sitzen und gab ihr unterwegs sogar etwas von seinem Brot ab. Tatiana starrte aus dem Fenster. War sie wirklich in der Lage, wieder in ihre Wohnung in der Fünften Sowjet zurückzukehren? Doch sie hatte gar keine andere Wahl. Der Fahrer ließ sie am Finnischen Bahnhof im Norden der Stadt aussteigen. Mit der Straßenbahn fuhr sie zum Newskij Prospekt und ging von dort zu Fuß nach Hause. Leningrad wirkte traurig und leer. Es war Nacht, und die Straßen waren nur spärlich beleuchtet, aber zumindest gab es wieder Strom. Bomben fielen keine, aber unterwegs sah Tatiana zahlreiche rauchende Trümmer. Sie hoffte nur, dass ihr Haus in der Fünften Sowjet noch stand.
Und dann war sie da. Das Gebäude sah noch genauso aus wie früher. Entschlossen drehte sie den Türknauf. In dem dunklen Flur roch es nach Urin. Langsam stieg Tatiana die drei Stockwerke zu ihrer Gemeinschaftswohnung hinauf und schloss auf. Der Schlüssel passte noch.
In der Wohnung war es still. In der vorderen Küche war niemand, und die Türen zu den Zimmern waren geschlossen. Alle, bis auf Slawins Tür, die nur angelehnt war. Tatiana klopfte und warf einen Blick hinein. Slawin lag auf dem Boden und hörte Radio.
»Wer bist du?«, fragte er mit schriller Stimme. »Tania Metanowa. Erinnerst du dich noch an mich? Wie geht es dir?« Sie lächelte. Manche Dinge änderten sich nie. »Warst du während des Kriegs von 1905 hier? Oh, den Japsen haben wir es aber gegeben!« Er wies mit dem Finger auf sein Radio. »Hör nur, hör gut zu!«
Aus dem Gerät drang nur das Schlagen des Metronoms. Leise machte Tatiana einen Schritt zurück. Die Russen haben diesen Krieg verloren, dachte sie. Slawin blickte auf und
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