Die Liebenden von Leningrad
aufzumachen. Er lag auf dem Bauch. Deshalb konnte er keine Gesichter sehen. Wieder erkannte er verschwommen etwas Kleines, Weißes. Was ist los?, wollte er fragen, aber er bekam kein Wort heraus. Dieser Geruch ... Es war ein süßer Hauch direkt an seinem Gesicht. »Shura, bitte, wach auf«, flüsterte die Stimme. »Alexander, mach die Augen auf! Mach die Augen auf, mein Liebster.« Er spürte weiche Lippen auf seiner Wange. Alexander öffnete die Augen. Er sah seine Tatiana. Tränen traten ihm in die Augen, aber er durfte sie nicht wieder schließen. Sie rief ihn ... »Shura, mach die Augen auf!« »Wo bin ich?«
»Im Feldlazarett in Morosowo.«
Er versuchte, den Kopf zu schütteln, konnte sich aber nicht bewegen. »Tatia?«, flüsterte er. »Das kann nicht sein.« Dann schlief er wieder ein.
Alexander lag auf dem Rücken. Ein Arzt stand vor ihm und sprach russisch mit ihm. Alexander konzentrierte sich auf die Stimme. Ja. Ein Arzt. Aber er konnte ihn nicht verstehen. Er konnte kein Russisch mehr verstehen.
Eine Weile später jedoch war das Russische nicht mehr so unverständlich und fremd.
»Ich glaube, er kommt zu sich. Wie fühlen Sie sich?« Alexander versuchte, sich zu konzentrieren. »Wie steht es um mich?«
»Nicht allzu gut.«
Alexander blickte sich um. Er befand sich in einem rechteckigen Holzgebäude mit ein paar kleinen Fenstern. Die Betten mit den Patienten standen in zwei Reihen, mit einem Gang dazwischen. Zögernd richtete Alexander seinen Blick wieder auf den Arzt und fragte: »Wie lange bin ich schon hier?« »Vier Wochen.« »Was ist passiert?« »Erinnern Sie sich nicht?« »Nein.«
Der Arzt setzte sich auf die Bettkante und sagte, sehr leise, auf Englisch: »Sie haben mir das Leben gerettet.« Schwach kehrte die Erinnerung zurück. Das Eis. Das Wasserloch. Die Kälte. Er schüttelte leicht den Kopf. »Bitte, sprechen Sie russisch«, sagte er. »Ich habe Ihnen nicht das Leben gerettet, um meins zu verlieren.«
Nickend erwiderte der Arzt: »Ich verstehe.« Er drückte ihm die Hand. »Ich komme in ein paar Tagen wieder, wenn es Ihnen ein bisschen besser geht. Dann können Sie mir mehr erzählen. Ich werde nicht mehr lange hier bleiben. Aber ich wollte nicht gehen, bevor Sie nicht außer Gefahr sind.« »Was haben Sie sich eigentlich dabei gedacht ... als Sie einfach so aufs Eis hinausgelaufen sind?«, fragte Alexander. »Nun, ich bin zum ersten Mal an der Front. Hat man das gemerkt?« Der Arzt lächelte.
»Na, ist unser verschlafener Patient endlich wach geworden?«, fragte eine muntere Krankenschwester mit schwarzen Haaren und schwarzen Knopfaugen. Sie trat lächelnd an sein Bett und fühlte ihm den Puls. »Hallo. Ich bin Ina. Sie haben vielleicht ein Glück gehabt!«
»Tatsächlich?«, erwiderte Alexander. So glücklich kam er sich gar nicht vor ... »Warum habe ich so viel Baumwolle im Mund?«
»Das ist keine Baumwolle. Sie stehen seit einem Monat unter Morphium. Wir haben erst letzte Woche damit angefangen, die Dosis langsam zu verringern. Sie begannen bereits langsam süchtig zu werden.«
»Wie heißen Sie?«, fragte Alexander den Arzt. »Matthew Sayers. Ich bin vom Roten Kreuz.« Er schwieg. »Ich war ein Idiot, und Sie haben beinahe dafür mit dem Leben bezahlt. «
Alexander schüttelte den Kopf. Er blickte sich im Zelt um. Alles war still. Vielleicht hatte er ja nur geträumt. Hatte sie einfach nur geträumt.
»Direkt hinter uns ist eine Splitterbombe explodiert und Sie sind getroffen worden«, erklärte Dr. Sayers. »Sie wurden gegen den Laster geschleudert und ich konnte Sie nicht von der Stelle bewegen.« In seinem schlechten Russisch fuhr er fort: »Ich habe gewinkt, damit uns jemand zu Hilfe kam. Ich wollte sie nicht allein lassen, aber wir brauchten eine Trage. Eine meiner Krankenschwestern kam auf das Eis gelaufen.« Sayers schüttelte den Kopf. »Sie ist wirklich eine ganz besondere Person. Denn in Wahrheit lief sie natürlich nicht, sondern robbte über das Eis. Ich sagte zu ihr: >Na, Sie sind dreimal so klug wie ich.< Und sie ist nicht nur über das Eis gerobbt, sie hat auch noch Blutplasma dabeigehabt.« »Was ist das?«
»Blutflüssigkeit ohne Blut. Es ist haltbarer als Blut und man kann es gut einfrieren. Ein Wunder für Verwundete wie Sie - es ersetzt die Flüssigkeit, die Sie verloren haben, bis man Ihnen eine Bluttransfusion geben kann.«
»Brauchte ich ... eine Bluttransfusion?«, fragte Alexander. Die Krankenschwester tätschelte ihm fröhlich den Arm. »Ja,
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