Die Liebenden von Leningrad
und warte -ungeduldig - darauf, dass du endlich wiederkommst. Bis auf eine Stunde am Nachmittag ist es von morgens bis abends dunkel. Die Gedanken an dich sind jedoch mein Sonnenschein, also scheint bei mir jeden Tag die Sonne. Tatiana
PS: Stanislaw ist mit der Regierung in Konflikt geraten.
Liebe Tania,
Puschkin brauchte nach Der eherne Reiter gar nichts mehr zu schreiben. Aber du hast Recht - die Rechtschaffenen erringen nicht immer den Ruhm. Manchmal allerdings doch.
Mir ist es egal, wie viel Arbeit du hast, du sollst mir mehr schreiben als nur ein paar Zeilen in der Woche.
Alexander
PS: Und du hast Inga und Stanislaw um ihr Leben beneidet...
Liebste Tatiascha,
wie bist du ins neue Jahr gekommen? Ich hoffe, du hattest etwas Köstliches zu essen. Warst du bei Oleg? Ich bin nicht glücklich. Ich habe Silvester mit zahlreichen anderen Leuten in der Feldküche verbracht, aber du warst nicht dabei. Du fehlst mir. Manchmal träume ich von einem Leben, in dem wir beide zusammen auf ein neues Jahr anstoßen können. Bei uns gab es etwas Wodka und Zigaretten. Die meisten gehen davon aus, dass das Jahr 1943 besser wird als 1942. Ich habe genickt, dabei aber an den Sommer 1942 gedacht. Alexander
PS: Wir haben alle sechshundert Mann verloren. Ich habe Tolja nicht mitgeschickt, und er sagt, er wird sich bei mir bedanken, wenn der Krieg vorbei ist.
PPS: Wo bist du, verdammt noch mal? Ich habe seit zehn Tagen nichts von dir gehört. Du bist doch nicht etwa nach Lazarewo zurückgegangen, jetzt, wo ich mich endlich dran gewöhnt habe, dass du nur siebzig Kilometer weit entfernt lebst und mir dadurch Kraft gibst? Bitte schreib mir in den nächsten Tagen. Du weißt, dass wir bald fortgehen müssen und erst wieder zurückkommen, wenn Leningrad und Wolkow befreit sind. Ich muss von dir hören, und wenn es nur ein einziges Wort ist.
Geliebter Shura!
Ich bin hier, kannst du mich denn nicht spüren, Soldat? Ich habe Silvester im Krankenhaus verbracht, und du sollst wissen, dass ich jeden Tag in Gedanken mit dir anstoße. Ich kann dir gar nicht sagen, wie viele Stunden ich gearbeitet habe, wie viele Nächte ich im Krankenhaus geschlafen habe und gar nicht nach Hause gekommen bin ... Shura! Sobald deine Mission beendet ist, musst du sofort zu mir kommen. Abgesehen von den offensichtlichen Gründen muss ich dir dringend etwas Aufregendes, Wundervolles, Fantastisches erzählen, und zwar bald! Du wolltest ein Wort von mir? Ich gebe dir eins mit auf den Weg - das Wort ist HOFFNUNG. Deine Tania
Alexander blickte auf die Uhr. Es war früh am Morgen am 12,. Januar 1943 und die Schlacht um Leningrad stand kurz bevor. Auf Befehl von Stalin sollte die deutsche Blockade gebrochen werden.
Alexander hatte die letzten drei Tage und Nächte mit Marasow und sechs Obergefreiten im Holzbunker am Ufer der Newa verbracht. Die Artilleriestellung lag direkt vor der Tür, die schweren Geschütze sorgfältig vor neugierigen Blicken verborgen. An diesem Morgen wartete Alexander ungeduldig darauf, dass der Kampf endlich begann. Sie befanden sich seit zweiundsiebzig Stunden im Bunker. Alexander dachte an Tatianas letzten Brief. Was zum Teufel hatte sie mit »Hoffnung« gemeint? Wie sollte ihm dieses Wort denn helfen? Er musste unbedingt zu ihr.
In seinem weißen Tarnanzug spähte er hinaus. Der Fluss hatte sich auch unsichtbar gemacht. In dem grauen Licht sah man das südliche Ufer kaum. Alexander befand sich am Nordufer der Newa, westlich von Schlüsselburg. Seine Artillerieeinheit deckte die äußerste Flanke des Flusses. Zugleich war dies auch die gefährlichste Stelle, weil die Deutschen in Schlüsselburg eine besonders gute Verteidigungslinie aufgebaut hatten. In etwa einem Kilometer Entfernung konnte Alexander die Festung Oreschek an der Mündung des Ladogasees erkennen. Ein paar hundert Meter vor Oreschek lagen die Leichen der sechshundert Männer, die vor sechs Tagen bei dem Überraschungsangriff umgekommen waren. Tapfer waren sie aufs Eis hinausgegangen, doch einer nach dem anderen war niedergemäht worden. Ob sich die Geschichte ihrer wohl erinnern wird?, fragte sich Alexander. Heute würde es passieren. Er spürte es. Sie würden entweder die Blockade brechen oder sterben. Die 67. Armee drängte auf einer Länge von acht Kilometern über den Fluss. Die Strategie für den Angriff ähnelte der von Meretzkows 2. Armee in Wolkow, die gleichzeitig Mansteins Armeegruppe Nord angriff. Artillerie und ein paar leichte Panzer sollten den Fluss
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