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Die Liebenden von Leningrad

Die Liebenden von Leningrad

Titel: Die Liebenden von Leningrad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paullina Simons
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rannte zu Marasow. Den anderen Soldaten schrie er zu, sie sollten ihren Weg über den Fluss fortsetzen. »Los! Geht!«
    Marasow lag auf dem Bauch. Alexander kniete sich neben ihn. Er hätte ihn gern umgedreht, aber er hatte Angst, ihn zu berühren. »Tolja«, sagte er keuchend, »Tolja! Halte durch!« Marasow war in den Nacken getroffen worden. Alexander blickte sich verzweifelt nach einem Sanitäter um, der ihm Morphium geben konnte.
    Plötzlich stellte er fest, dass ein Arzt über das Eis gelaufen kam. Er trug einen Wollmantel und eine Mütze, aber noch nicht einmal einen Helm! Er rannte zu einer Gruppe von Männern, die rechts von Alexander neben einem Eisloch zu Boden gesunken waren. Alexander hatte kaum genug Zeit, um sich darüber zu wundern, was für ein Idiot dieser Arzt sein mochte, als hinter ihm Soldaten schrien: »Hinlegen! Hinlegen!« Aber das Geschützfeuer war zu laut. Schwarzer Rauch verdeckte die Sicht. Der Arzt verharrte aufrecht und rief den Soldaten auf Englisch zu: »Was? Was sagt ihr? Was?«
    Alexander überlegte nicht eine Sekunde lang. Er sprang auf und schrie, so laut er konnte, auf Englisch: »Leg dich hin, verdammt noch mal!«
    Gerade noch rechtzeitig ließ sich der Arzt fallen. Eine zylindrische Bombe flog nur wenige Meter über seinen Kopf und schlug kurz hinter ihm auf. Der Arzt wurde wie ein Geschoss über das Eis geschleudert und landete mit dem Kopf zuerst in einem Eisloch.
    Alexander blickte auf Marasow, aus dessen Mund Blut lief. Seine Pupillen waren starr. Er schlug das Kreuzzeichen über ihm, ergriff sein Maschinengewehr und rannte zu dem Wasserloch. Der Mann trieb bewusstlos im Wasser. Alexander versuchte, ihn herauszuziehen, aber er erreichte ihn nicht. Kurz entschlossen sprang er hinein. Die Kälte machte sofort seinen ganzen Körper gefühllos. Er fasste den Mann unter dem Kinn und schwamm mit ihm zum Rand. Dort hievte er ihn mühsam heraus. Schwer atmend schob er sich anschließend selbst auf das Eis. Stöhnend kam der Mann zu sich. »Mein Gott, was ist passiert?«, fragte er auf Englisch.
    »Still«, erwiderte Alexander ebenfalls auf Englisch. »Bleiben Sie liegen. Wir müssen Sie dort drüben zu dem Panzerfahrzeug bringen. Sehen Sie es? Es sind nur zwanzig Meter. Dahinter ist es sicherer. Wir sind hier auf offenem Gelände.« »Ich kann mich nicht bewegen«, murmelte der Arzt. »Ich bin völlig erstarrt.«
    Auch Alexander spürte die bittere Kälte. Er blickte sich um. Die einzige Deckung waren die drei Leichen neben dem Wasserloch. Auf dem Bauch robbte er dorthin und zerrte eine Leiche zurück zu dem unterkühlten Mann. »Und jetzt bleiben Sie still liegen, halten die Leiche fest und rühren sich nicht!« Er zog sich ebenfalls eine Leiche auf den Rücken und ergriff seine Waffen und seinen Rucksack. »Sind Sie bereit?«, sagte er auf Englisch zu dem Arzt. »Ja, Sir.«
    »Halten Sie sich unten an meinem Mantel fest. Lassen Sie nicht los. Wir machen jetzt eine kleine Rutschpartie.« So schnell er konnte, zog Alexander den Arzt mitsamt der Leiche die zwanzig Meter bis zu dem Panzerfahrzeug. Um ihn herum schlugen die Bomben ein und er hatte das Gefühl, der Kopf müsse ihm platzen.
    Das Letzte, woran er sich erinnerte, war ein pfeifendes Geräusch und ein Schlag, der ihn mit dem Helm zuerst gegen den Laster schleuderte. Dann verlor er das Bewusstsein.

    Es kostete ihn zu viel Kraft, die Augen aufzuschlagen. Er hörte leise Stimmen, leise Geräusche, es roch nach Kampfer und Alkohol. Alexander träumte von seiner ersten Achterbahnfahrt am Revere Beach in Massachusetts. Er träumte vom Sandstrand in Nantucket. Dort gab es eine kurze, hölzerne Strandpromenade, auf der Zuckerwatte verkauft wurde. Er hörte leise weibliche, manchmal auch männliche Stimmen, und einmal fiel etwas scheppernd zu Boden. Dann wieder träumte er davon, wie er als Kind mit seinen Eltern durch die Mojawe-Wüste gefahren war. Im Auto war es stickig und doch war ihm kalt. Warum war ihm kalt?
    Und es roch nach irgendetwas in der Wüste. Nicht nach Zuckerwatte, auch nicht nach Salz, es roch nach ... Er schlug die Augen auf. Aber er sah alles nur wie durch einen Nebel und konnte keine Gesichter erkennen. Er nahm nur verschwommene weiße Umrisse wahr. Aber da war dieser Geruch wieder ...
    Jemand beugte sich über ihn und er hätte schwören können, dass sein Name geflüstert wurde. Alexander. Und jemand um-fasste seinen Kopf.
    Mehr und mehr erlangte er das Bewusstsein wieder. Er zwang sich erneut, die Augen

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