Die Liebenden von Leningrad
Tatiana.
»Er ist ein netter Mann.« Tatiana blickte Alexander gespielt vorwurfsvoll an. »Du hast ihm nicht in meinem Namen gedankt. «
»Tania, wir sind Männer! Wir schlagen uns nicht dauernd auf die Schulter.«
»Jetzt mach deinen Mund auf.« »Was hast du mir denn zu essen gebracht?« Es gab Kohlsuppe mit Kartoffeln und Weißbrot mit Butter. »Wo hast du nur die ganze Butter her?« Es waren fast zweihundertfünfzig Gramm.
»Verwundete Soldaten bekommen eine Extraportion«, erwiderte sie. »Und du bekommst eine extra Extraportion. Du musst schnell gesund werden.« »Hast du schon gegessen?«
Tatiana zuckte mit den Schultern. »Wer von uns hat schon Zeit zum Essen?«, meinte sie beiläufig. Sie zog sich den Stuhl näher ans Bett.
Alexander sagte: »Glaubst du, die anderen Patienten haben etwas dagegen, wenn meine Krankenschwester mich küsst?« »Ja«, erwiderte sie und wich ein wenig zurück. »Sie werden denken, ich küsse jeden.«
Alexander blickte sich um. In der anderen Ecke des Zimmers lag ein Mann, der beide Beine verloren hatte. Man konnte nichts mehr für ihn tun. Neben Alexander rang der Mann im Isolierzelt mit jedem Atemzug um sein Leben.
»Tania«, sagte er leise, »Ina hat mir erzählt, dass ich Plasma gebraucht habe. Wie schlimm ...«
Rasch unterbrach sie ihn: »Du wirst wieder ganz gesund. Du hast ein bisschen Blut verloren, das ist alles.« Ein Schauer überlief sie, aber sie fasste sich rasch wieder. »Hör zu«, flüsterte sie, »hör gut zu ...«
»Warum bist du eigentlich nicht die ganze Zeit bei mir? Warum bist du nicht meine Krankenschwester?«
»Na, hör mal! Noch vor zwei Tagen wolltest du, dass ich weit weg bin, und jetzt soll ich auf einmal die ganze Zeit bei dir sein?« »Ja.«
»Liebster«, erwiderte Tatiana lächelnd, »ich versuche nur, professionelle Distanz einzuhalten. Ina ist eine gute Krankenschwester. Bald wird es dir wieder besser gehen und dann können wir dich auf eine Genesungsstation verlegen.« »Arbeitest du denn da? Dann geht es mir spätestens in einer Woche schon besser.« »Nein, Shura. Dort bin ich auch nicht.« »Wo bist du denn?«
»Hör doch endlich mal zu! Ich muss mit dir reden und du unterbrichst mich ständig.«
»Ich unterbreche dich nicht mehr, wenn du unter der Decke meine Hand hältst.«
Tatiana ergriff seine Hand und verschränkte ihre Finger mit seinen. »Wenn ich so groß und stark wäre wie du«, sagte sie leise, »hätte ich dich hochgehoben und dich selbst vom Eis getragen.«
Er drückte ihre Hand. »Mach mich nicht böse! Dazu bin ich viel zu glücklich. Bitte küss mich.« »Nein, Shura, du hörst jetzt, was ich dir ...« »Warum siehst du eigentlich so unglaublich gut aus? So strahlend glücklich? Du hast noch nie besser ausgesehen!« »Noch nicht einmal in Lazarewo?«, flüsterte Tatiana. »Hör auf, bring einen erwachsenen Mann nicht zum Weinen. Du strahlst von innen heraus.« »Du lebst und das macht mich unendlich froh.« »Und wie bist du an die Front gekommen?«
»Das will ich dir ja schon die ganze Zeit erzählen.« Sie lächelte. »Als ich aus Lazarewo wegging, wusste ich ganz genau, dass ich auf der Intensivstation als Krankenschwester arbeiten wollte. Doch nachdem du mich im November besucht hattest, beschloss ich, mich bei der nächsten Gelegenheit freiwillig zu melden. Ich wollte dorthin, wo du warst - an die Front. Wenn du in die Schlacht um Leningrad ziehen musstest, wollte ich dabei sein.«
»Das war dein Plan?« »Ja.«
Er schüttelte den Kopf. »Ich bin froh, dass du es mir damals nicht erzählt hast, und auch jetzt habe ich eigentlich nicht die Kraft, es mir anzuhören.«
»Du wirst noch viel mehr Kraft benötigen, wenn du die ganze Geschichte hörst.« Tatiana konnte ihre Erregung kaum verbergen. »Als Dr. Sayers ins Grecheskij kam«, fuhr sie fort, »habe ich ihn sofort gefragt, ob er noch Hilfe bräuchte. Die Rote Armee hat ihn angefordert, weil bei den jüngsten Kämpfen so viele Soldaten verwundet worden sind.« Sie wurde noch leiser. »Ich glaube, die Sowjets unterschätzen die Zahl der Verwundeten. Wir wurden der Flut jedenfalls kaum Herr. Als Dr. Sayers mir sagte, dass er an die Leningrader Front ginge, habe ich ihn gefragt, ob ich mit ihm kommen könnte. Wie sich herausstellte, brauchte er Hilfe, weil die einzige Krankenschwester, die er mitgebracht hatte, krank wurde. Das arme Ding hat Tuberkulose bekommen, was ja im Leningrader Winter keine Überraschung ist.« Tatiana schüttelte den Kopf.
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