Die Liebenden von Leningrad
ganze Zeit über ist Tatiana ihm nicht von der Seite gewichen. Dr. Sayers hat ihr gesagt, dass Ihre Verbände alle drei Stunden gewechselt werden müssten, ebenso wie die Drainage, damit Sie keine Infektion bekämen. Vierzehn Tage und Nächte lang hat Tatiana alle drei Stunden die Verbände gewechselt. Danach sah sie aus wie ein Gespenst. Aber Sie haben es geschafft und dann haben wir Sie auf die Intensivstation verlegt. Ich habe zu ihr gesagt: >Tania, dieser Mann sollte dich heiraten für das, was du für ihn getan hast<, und sie hat geantwortet: >Meinst du?<« Ina schnalzte missbilligend mit der Zunge. »Geht es Ihnen gut, Major? Warum weinen Sie denn?«
Als Tatiana an diesem Nachmittag mit seinem Essen kam, ergriff Alexander wortlos ihre Hand.
»Was ist los, Liebster?«, flüsterte sie. »Tut dir etwas weh?« »Mein Herz«, erwiderte er.
Sie beugte sich zu ihm. »Shura, Liebling, komm, ich füttere dich. Nach dir muss ich noch zehn weitere sehr kranke Männer füttern. Einer von ihnen hat keine Zunge mehr. Stell dir das einmal vor! Ich komme heute Abend wieder, wenn ich kann. Ina denkt bestimmt, ich habe mich in dich verliebt.« Tatiana lächelte. »Warum siehst du mich denn so seltsam an?« Alexander brachte kein Wort heraus.
Später am Abend kam Tatiana wieder. Es war dunkel und alle schliefen. Still setzte sie sich an Alexanders Bett. »Tatia ...«
Leise erwiderte sie: »Ina ist eine Klatschbase. Ich habe ihr gesagt, sie soll meinen Patienten nicht aufregen. Ich wollte nicht, dass du dir Sorgen machst. Aber sie konnte es wohl nicht für sich behalten.«
»Ich verdiene dich nicht«, sagte er.
»Alexander, was soll das denn heißen? Glaubst du, ich lasse dich sterben, wenn ich doch weiß, dass du dazu bestimmt bist, wieder nach Amerika zu gehen? Ich will dich doch so kurz vor dem Ziel nicht verlieren.«
»Ich verdiene dich nicht«, wiederholte er.
»Shura«, sagte sie, »hast du vergessen, dass du mich in Luga gerettet hast? Und hast du den Winter in Leningrad vergessen?
Und Lazarewo? Ich nicht. Mein Leben gehört dir.«
Als Alexander aufwachte, saß Tatiana auf dem Stuhl neben ihm. Sie schlief. Ihr Kopf war auf sein Bett gesunken. Es war still und dunkel in dem großen Saal und kalt. Er zog ihr das Häubchen ab und fuhr mit den Fingern über die Haarsträhnen, die ihr in die Augen gefallen waren, berührte ihre Augenbrauen, ihre Sommersprossen, ihre kleine Nase, ihre weichen Lippen. Sie wachte auf. »Hmm«, sagte sie und tätschelte ihn, »ich gehe jetzt besser.«
»Tania ...«, flüsterte er, »wann werde ich wohl endlich vollständig wiederhergestellt sein?«
»Liebster«, erwiderte sie beruhigend, »fühlst du dich denn noch nicht wiederhergestellt?« Sie nahm ihn in die Arme. »Umarme mich, Shura«, sagte sie, »umarme mich ganz fest.« Flüsternd fügte sie hinzu: »Wie ich es liebe ...« Alexander schlang die Arme um sie und sie küsste ihn zärtlich. »Erzähl mir was vom letzten Sommer«, flüsterte er. »Mmm, was möchtest du denn hören?« »Du weißt schon, was ich hören möchte.« Sie verteilte leichte Küsse auf seinem Gesicht und hauchte: »Ich erinnere mich, wie ich an einem regnerischen Abend von Naira nach Hause gelaufen kam und unsere Decke vor das Feuer legte und du mich so zärtlich geliebt hast. Du hast mir gesagt, du würdest erst aufhören, wenn ich dich darum bitten würde.« Tatiana lächelte.
»Und habe ich dich gebeten, aufzuhören?« »Nein«, erwiderte er heiser.
»Und danach bist du auf mir eingeschlafen. Ich war wach und habe dich lange festgehalten. Schließlich bin ich auch eingeschlafen und am Morgen lagst du immer noch auf mir. Weißt du noch?«
»Ja«, erwiderte er und schloss die Augen. »Ich erinnere mich.« Ich erinnere mich an alles. An jedes Wort, jeden Atemzug, jedes Lächeln, jeden Kuss, jedes Spiel und jeden Kohlkuchen, den du mir gebacken hast. Ich erinnere mich an alles. »Und jetzt erzählst du mir was«, flüsterte sie. »Aber leise. Sonst bekommt der blinde Mann da drüben einen Herzanfall.« Alexander schob ihr die Haare aus der Stirn und lächelte. »Ich erinnere mich, wie Axinja an der Tür zur banya stand, während wir allein darin waren, ganz heiß und seifig, und ich habe dir ständig sagen müssen, dass du leise sein sollst.« »Schscht«, hauchte Tatiana und blickte zu dem schlafenden Mann hinüber. Sie wich ein wenig von Alexander zurück. »Warte«, sagte er und hielt sie fest. »Ich brauche etwas.« Sie lächelte. »Was denn?« Sie
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