Die Liebenden von Leningrad
Sie legte die Hände vors Gesieht und ließ sie dann wieder sinken. »Sie ist meine ältere Schwester. Verstehst du?«
Ich war das einzige Kind meiner Eltern . Sie hatte seine Worte noch im Ohr.
Sanfter fügte sie hinzu: »Sie ist meine einzige Schwester.« Sie schwieg. »Und sie meint es ernst mit dir.« Musste sie noch deutlicher werden? Eigentlich war damit alles gesagt, aber dann bemerkte sie sein düsteres Gesicht. »Es wird noch andere Jungen geben«, fügte sie schließlich mit kokettem Achselzucken hinzu. »Aber eine andere Schwester werde ich nicht bekommen. «
Alexander erwiderte nur: »Ich bin kein Junge.«
»Dann eben ... Männer«, stammelte Tatiana. Langsam wurde ihr das alles zu kompliziert.
»Wie kommst du darauf, dass es andere Männer geben wird?« Tatiana zuckte mit den Schultern. »Weil ihr die Hälfte der Weltbevölkerung ausmacht. Aber ich habe nur eine Schwester.« Als Alexander nicht antwortete, fragte sie: »Du magst Dascha doch, oder?«
Leise erwiderte er: »Natürlich, aber ...« »Na, siehst du«, unterbrach Tatiana ihn. »Dann ist doch alles geklärt. Wir brauchen nicht mehr darüber zu reden.« In Wirklichkeit war ihr ganz anders zumute. Sie seufzte schwer. »Nein«, erwiderte Alexander, ebenfalls seufzend. »Wahrscheinlich nicht.«
»Also gut.« Tatiana blickte aus dem Fenster. Immer wenn sie über ihr zukünftiges Leben nachdachte, fiel ihr der Großvater ein. Wie würdevoll er doch sein einfaches Leben führte! Wenn jemand sie fragte, was sie einmal werden wolle, dann sagte sie sofort: »Ich möchte werden wie mein Großvater.« Und Tatiana wusste, was Deda in ihrem Fall tun würde. Er würde seiner Schwester niemals das Herz brechen. Die Tram fuhr den Grecheskij entlang. Alexander bat Tatiana, mit ihm am Grecheskij-Krankenhaus, ein paar Haltestellen vor der Fünften Sowjet, auszusteigen. »In diesem Krankenhaus bin ich geboren«, sagte Tatiana und wies auf das rote Ziegelgebäude, als sie auf den Bürgersteig sprang. »Tania, sag mir, magst du Dimitri?«
Tatiana ließ sich mit der Antwort Zeit. Was wollte er hören? Hatte Dimitri ihn gebeten, sie zu fragen, oder wollte er es selbst wissen? Und was sollte sie ihm sagen? Wenn er im Auftrag von Dimitri fragte und sie behauptete, sie würde ihn nicht mögen, dann verletzte sie Dimitris Gefühle, und das wollte sie nicht.
Wenn jedoch Alexander es wissen wollte und sie erklärte, Dimitri würde ihr gefallen, kränkte sie Alexander. Aber er gehörte doch zu Dascha! Schuldete Daschas jüngere Schwester ihm da eine aufrichtige Antwort?
»Nein«, erwiderte sie schließlich und sah an seinem Gesicht, dass sie ihm die Antwort gegeben hatte, die er hören wollte. »Dascha meint allerdings, ich solle ihm eine Chance geben. Was denkst du?«
»Ich bin dagegen«, erwiderte er, ohne zu zögern. Sie waren an der Ecke Zweite Sowjet und Grecheskij Prospekt stehen geblieben. Die Kuppel der Kirche gegenüber ihrem Haus leuchtete in der Ferne. Tatiana wollte sich noch nicht von Alexander trennen. Sie ahnte, dass sie ihn danach nie mehr allein sehen würde.
»Alexander, sind deine ... Eltern noch in Krasnodar?«, fragte sie leise und blickte ihn forschend an. »Nein«, erwiderte er, »sie sind nicht mehr in Krasnodar.« Sie blickte ihn unverwandt an. »Tania, ich kann dir so vieles nicht erklären ...«
»Versuch es doch«, entgegnete Tania leise und hielt den Atem »Was gerade in der Roten Armee passiert - die Verwirrung, die Tatsache, dass jegliche Vorbereitung und Organisation fehlt -nichts davon ist nachzuvollziehen, wenn man nicht die Ereignisse der letzten vier Jahre kennt. Verstehst du?« Tatiana stand ganz still. »Nein. Was hat das mit deinen Eltern zu tun? «
Alexander trat ein wenig näher, um sie gegen die untergehende Sonne abzuschirmen. »Meine Eltern sind tot. Meine Mutter starb 1936, mein Vater 1937.« Er senkte die Stimme. »Erschossen. Vom NKWD - dem Volkskommissariat für Innere Angelegenheiten. Ich muss jetzt gehen.«
Tatianas entsetzter Gesichtsausdruck hielt ihn zurück. Er tätschelte ihr den Arm und sagte grimmig lächelnd: »Mach dir keine Gedanken. Manchmal geht es eben nicht so aus, wie wir es uns erhoffen. Ganz gleich, wie genau wir etwas planen oder was wir uns wünschen. Habe ich Recht?« »Ja, das stimmt«, gab Tatiana zu und schlug die Augen nieder. Sie war sicher, dass er nicht nur auf seine Eltern anspielte. »Alexander, möchtest du ...«
»Ich muss jetzt wirklich gehen«, unterbrach er sie. »Wir sehen
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