Die Liebenden von Leningrad
normales Leben.«
Tatiana fand Papas Meinung zu pessimistisch. Offenbar versetzte ihn der Wodka in eine düstere Stimmung. Irgendetwas musste ihnen doch zu einem neuen Leben verhelfen! Aber was? Über diesen Gedanken schlief sie ein. Um Viertel vor zwei in der Nacht erwachte sie durch ein Geräusch von draußen, dass sie noch nie zuvor gehört hatte. Das Heulen einer Sirene durchbrach die Stille der Nacht. Tatiana schrie auf.
Ihr Vater trat an ihr Bett und sagte beruhigend, sie solle sich keine Sorgen machen, das sei nur eine Luftalarmsirene. Sie fragte, ob sie aufstehen müsse. Bombardierten die Deutschen sie bereits?
»Schlaf weiter, Taneschka, mein Liebes«, beruhigte Papa sie, aber wie konnte sie schlafen, wenn die Sirenen heulten und Dascha noch nicht zu Hause war? Nach ein paar Minuten verstummten die Sirenen wieder.
Am nächsten Tag wurde Tatiana und ihren Kolleginnen bei der Morgenversammlung bei Kirow gesagt, dass der Arbeitstag wegen des Krieges bis auf weiteres bis sieben Uhr dauern würde. Bis auf weiteres hieß, bis der Krieg zu Ende war, vermutete Tatiana. Krasenko teilte den Arbeitern mit, dass er und der Parteisekretär aus Moskau die Produktion der KV-1 steigern wollten. Er sagte, sie würden Leningrad mit so viel Panzern, Munition und Artillerie verteidigen, wie sie in Kirow herstellen könnten. So würde Stalin keine Waffen von der Südfront abziehen müssen.
Nach dieser Versammlung meldeten sich so viele Arbeiter freiwillig für die Front, dass Tatiana befürchtete, die Fabrik müsse im Gegenteil eher geschlossen werden. Aber das war nicht der Fall. Sie und eine andere Arbeiterin - eine verhärmte Frau mittleren Alters namens Zina - kehrten ans Fließband zurück. Am Ende des Tages ging die Nagelmaschine kaputt und Tatiana musste die Nägel, mit denen die Kisten verschlossen wurden, mit dem Hammer hineinklopfen. Als es endlich sieben Uhr war, taten ihr der Arm und der Rücken weh.
Tatiana und Zina gingen an der Kirow-Mauer entlang und sie waren noch nicht an der Bushaltestelle angelangt, als Tatiana schon Alexanders schwarzen Haarschopf erblickte. »Ich muss gehen«, sagte Tatiana und beschleunigte ihre Schritte. »Bis morgen dann.« Zina murmelte irgendetwas.
»Hallo«, begrüßte sie Alexander mit klopfendem Herzen. »Was machst du hier?« Sie war zu müde, um ihre Freude zu verbergen, und strahlte ihn an.
»Hallo, ich wollte dich abholen. Hattest du einen schönen Geburtstag? Hast du mit deinen Eltern geredet?« »Nein«, erwiderte Tatiana. »Nein zu beiden Fragen?«
»Ich habe nicht mit ihnen geredet, Alexander«, sagte Tatiana, der Frage nach dem Geburtstag absichtlich ausweichend. »Vielleicht sollte Dascha mit ihnen reden? Sie ist viel mutiger als ich.« »Ach ja?«
»O ja, sehr viel mutiger«, versicherte Tatiana. »Ich bin ein Feigling.«
»Ich habe versucht, mit ihr über Pascha zu reden. Sie macht sich noch weniger Sorgen als du.« Er zuckte mit den Schultern. »Es geht mich ja nichts an. Ich wollte nur tun, was ich kann.« Er blickte auf die Schlange der wartenden Menschen. »Im Bus werden wir niemals Platz finden. Möchtest du wieder laufen?«
»Höchstens bis zur Tram«, erwiderte Tatiana. »Ich kann mich kaum noch bewegen. Ich bin so müde.« Sie schwieg und band sich ihren Pferdeschwanz neu. »Hast du schon lange gewartet?« »Zwei Stunden«, antwortete er und Tatianas Müdigkeit war plötzlich verflogen. Überrascht blickte sie Alexander an. »Du hast zwei Stunden lang gewartet?« Eigentlich wollte sie fragen: Du hast zwei Stunden lang auf mich gewartet? »Sie haben die Arbeitszeit bis sieben Uhr verlängert. Es tut mir Leid, dass du so lange dort gestanden hast«, fügte sie leise hinzu. Sie überquerten die Straße und gingen zur Ulitsa Goworowa. »Warum hast du das dabei?« Tatiana wies auf Alexanders Gewehr. »Bist du im Dienst?«
»Ich habe bis zehn Uhr frei«, sagte er. »Aber ich habe den Befehl, mein Gewehr die ganze Zeit bei mir zu tragen.« »Die Deutschen sind doch noch nicht hier, oder?«, fragte Tatiana.
»Noch nicht«, erwiderte er knapp. »Ist das Gewehr schwer?«
»Nein.« Er schwieg und lächelte sie an. »Möchtest du es mal tragen?«
»Gern«, sagte sie. »Ich habe noch nie ein Gewehr in der Hand gehalten.« Als sie es entgegennahm, war sie überrascht, wie schwer es war. Sie musste es mit beiden Händen festhalten. Sie trug es eine Zeit lang, dann gab sie es Alexander zurück. »Ich weiß nicht, wie du es schaffst, das Gewehr und auch noch all
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