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Die Liebenden von Leningrad

Die Liebenden von Leningrad

Titel: Die Liebenden von Leningrad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paullina Simons
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uns.«
    Sie hätte ihn gern gefragt, wann das sein würde, aber sie brachte kein Wort mehr heraus.
    Tatiana stand nicht der Sinn danach, nach Hause zu gehen. Überall wäre sie jetzt lieber gewesen, nur nicht in der Wohnung - ohne ihn.
    Im Treppenhaus blieb sie noch für eine Weile stehen. Geistesabwesend malte sie Achten auf das Geländer. Dann stieg sie schweren Herzens die Treppe hinauf.

    Als Tatiana die Wohnung betrat, sprach ihre Familie gerade über den Krieg. Es gab zwar kein Geburtstagsessen für Tatiana, dafür aber Unmengen zu trinken. Und viele laute Streitgespräche. Was würde mit Leningrad passieren?, fragten sich alle. Ihr Vater und ihr Großvater stritten über Hitlers Absichten - als ob sie ihn beide persönlich kennen würden. Mama wollte wissen, warum Genosse Stalin nicht persönlich zum Volk geredet hatte. Und Dascha interessierte nur, ob sie weiter arbeiten gehen sollte.
    »Was sonst?«, giftete ihr Vater gereizt. »Sieh dir Tania an. Sie ist kaum siebzehn und sie fragt nicht, ob sie weiter arbeiten soll.«
    Alle blickten Tania an.
    Tatiana stellte ihre Tasche ab. »Seit heute bin ich siebzehn, Papa.« »Ach ja!«, rief Papa aus. »Natürlich. Der Tag war so chaotisch. Lasst uns auf Paschas Gesundheit trinken.« Er schwieg. »Und auf Tanias.«
    Das Zimmer schien merkwürdigerweise geschrumpft zu sein, seit Pascha nicht mehr bei ihnen war.
    Tatiana lehnte sich an die Wand und fragte sich, ob jetzt wohl ein guter Zeitpunkt war, um die Sprache auf Tolmachewo und ihren Bruder zu bringen. Kaum jemand achtete auf sie, außer Dascha, die sagte: »Iss doch etwas Hühnersuppe. Sie steht in der Küche auf dem Herd.« Tatiana füllte sich einen Teller mit Suppe. Dann setzte sie sich in der Küche auf die Fensterbank und starrte in den Hof, während die Suppe neben ihr kalt wurde. Sie konnte jetzt nichts Heißes essen. Sie hatte im Inneren das Gefühl, zu verbrennen.
    Als Tatiana ins Zimmer zurückkehrte, sprach ihre Mutter gerade tröstend auf ihren Vater ein: »Dieser Krieg dauert bestimmt nicht bis zum Winter. Bis dahin ist alles vorbei.« Papa schwieg und strich über die Falten seines Hemdes. Dann sagte er: »Weißt du, auch Napoleon ist mit seinen Armeen im Juni in die Sowjetunion gekommen.«
    »Napoleon!«, rief Mama. »Was hat denn Napoleon damit zu tun, Georgi Wassiliewitsch? Ich bitte dich!« Tatiana öffnete den Mund, um etwas über Tolmachewo zu sagen, aber dann fiel ihr ein, dass sie wahrscheinlich erklären müsste, woher sie ihr Wissen hatte, und so schwieg sie. Papa saß neben Mama und blickte in sein leeres Glas. »Komm, wir trinken noch etwas«, sagte er traurig. »Lass uns auf Pascha trinken.«
    »Wir sollten nach Luga fahren!«, rief Mama. »Lass uns auf unsere Datscha fahren.«
    Jetzt musste Tatiana aber etwas sagen! »Vielleicht«, presste sie hervor, »vielleicht sollten wir Pascha aus dem Sommerlager holen.«
    Papa, Mama, Dascha, Deda und Babuschka blickten Tatiana verwirrt und vorwurfsvoll an. Ganz so, als ob sie sich wunderten, dass sie überhaupt sprechen konnte. Als ob sie bedauerten, Erwachsenenangelegenheiten in Gegenwart eines Kindes besprochen zu haben.
    Mama begann zu weinen. »Wir sollten ihn wirklich zurückholen. Mein Gott, er hat heute Geburtstag und ist ganz allein.« Ich habe auch Geburtstag, dachte Tatiana. Sie stand auf und beschloss, ein Bad zu nehmen. »Wohin gehst du?«, rief Papa ihr nach. »Mich waschen.«
    »Nimm wenigstens ein paar Teller mit in die Küche!«, schimpfte Mama.
    Dascha wollte an diesem Abend ausgehen. Tatiana fragte nicht, wohin. Wahrscheinlich wollte sie sich mit Alexander treffen. Tatiana hielt nichts von Selbstmitleid. Das würde sich auch jetzt nicht ändern, auch wenn sie das Gefühl hatte, ihr würde das Herz aus dem Leib gerissen. Sie zwang sich, ein paar Geschichten von Tschechow zu lesen, die für gewöhnlich eine beruhigende Wirkung auf sie hatten. Nach sieben Geschichten legte sie das Buch zur Seite.
    Sie hörte Deda und Papa weiter über den Krieg streiten. Deda sagte, viele Leute sähen ihn gar nicht als Tragödie an. Die Vorstellung, dass Krieg herrschte, war schrecklich, aber konnte er ihnen nicht vielleicht auch die Freiheit bringen? Konnte er Russland nicht möglicherweise von der drückenden Last der Bolschewiken befreien und dem Volk die Chance geben, ein neues, normales und menschliches Leben zu führen? Papa antwortete mit wodkageschwängerter Stimme: »Nichts befreit Russland von den Bolschewiken. Nichts bringt uns ein

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