Die Liebenden von Leningrad
die anderen Sachen zu tragen«, sagte sie. »Ich trage es nicht nur, Tania, ich schieße auch damit. Ich laufe, falle zu Boden und springe wieder auf, und das mit dem ganzen Gepäck auf dem Rücken.«
Die Straßenbahn kam und sie stiegen ein. Tatiana überließ ihren Platz einer älteren Dame. Alexander wollte sich ohnehin nicht setzen. Er hielt sich an einem der Haltegriffe fest, während Tatiana die halb verrostete Metallstange umklammerte. Jedes Mal, wenn die Bahn um die Kurve fuhr, stieß Tatiana gegen Alexander, und jedes Mal entschuldigte sie sich. Sein Körper war so hart wie die Kirow-Mauer.
Tatiana hätte sich gern allein mit ihm irgendwohin gesetzt und ihn nach seinen Eltern gefragt. In der Straßenbahn ging das natürlich nicht. Und war es überhaupt gut für sie, etwas über seine Eltern zu erfahren? Würde sie sich ihm dadurch nicht nur noch näher fühlen, obwohl sie sich eigentlich von ihm fern halten wollte? Tatiana schwieg die ganze Fahrt über, bis sie am Wosnesenskij Prospekt in die Tram Nummer 2 Richtung Russisches Museum umstiegen.
»Nun, ich muss jetzt nach Hause«, sagte Tatiana zögernd. »Möchtest du dich nicht noch eine Minute hinsetzen?«, fragte Alexander. »Wir können uns eine Bank im Italienischen Garten suchen.«
»In Ordnung«, gab Tatiana nach, wobei sie bemüht war, sich ihre Freude nicht anmerken zu lassen. Als sie nebeneinander auf der Bank saßen, spürte Tatiana deutlich, dass ihn etwas bedrückte. Doch offensichtlich fiel es ihm sehr schwer, darüber zu sprechen. Hoffentlich ging es nicht um Dascha. »Alexander, was ist das für ein Gebäude dort drüben?«, fragte Tatiana und wies über die Straße.
»Oh, das ist das Hotel Europa «, erwiderte Alexander. »Das und das Astoria sind die besten Hotels in Leningrad.« »Es sieht aus wie ein Palast. Wer darf dort wohnen?« »Ausländer,«
Tatiana sagte: »Mein Vater war vor ein paar Jahren mal auf Geschäftsreise in Polen, und als er zurückkam, hat er uns erzählt, dass in seinem Hotel in Warschau Polen aus Krakau gewohnt haben. Kannst du dir das vorstellen? Wir haben ihm das zuerst gar nicht geglaubt. Wieso sollten Polen in Warschau in einem Hotel übernachten dürfen?« Sie kicherte. »Das wäre ja so, als würde ich drüben im Hotel Europa übernachten.« Alexander blickte sie amüsiert an und erklärte: »Es gibt tatsächlich Länder, wo die Leute verreisen dürfen, wie sie wollen.« Tatiana machte eine abwehrende Geste. »Wie in Polen vermutlich «, erwiderte sie.
Sie schluckte und räusperte sich. »Alexander ... das mit deinen Eltern tut mir so Leid.« Sie berührte ihn sanft an der Schulter.
»Erzähl mir doch bitte, was passiert ist.«
Alexander seufzte. »Dein Vater hat Recht, weißt du.«
Einen Moment lang schwieg er. »Ich komme nicht aus Krasnodar.«
»Nein? Woher denn dann?«
»Hast du jemals von einer Stadt namens Barrington gehört?« »Nein. Wo ist das?« »In Massachusetts.«
Tatiana glaubte, sie habe sich verhört. »Massachusetts«, keuchte sie mit aufgerissenen Augen. »In Amerika?« »Ja. In Amerika.«
»Du bist aus Massachusetts in Amerika?«, fragte sie ungläubig nach.
»Ja.«
Ein oder zwei Minuten lang konnte Tatiana nicht sprechen. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Angestrengt bemühte sie sich, den Mund geschlossen zu halten.
»Du neckst mich doch nur«, sagte sie schließlich. »So leicht kannst du mich nicht hereinlegen.«
Alexander schüttelte den Kopf. »Nein, ich necke dich nicht.« »Weißt du, warum ich dir nicht glaube?« »Ja«, erwiderte Alexander. »Du fragst dich, wer freiwillig hierher in dieses Land kommt.« »Genau das denke ich.«
»Nun, wir waren am Anfang voller Illusionen«, sagte Alexander. »Wir - zumindest mein Vater - sind voller Hoffnung hierher gekommen. Wir hatten nicht damit gerechnet, dass es noch nicht einmal Duschen gab.« »Duschen?«
»Ach, das ist jetzt nicht wichtig. Und es gab auch kein heißes Wasser. In der Pension, in der wir wohnten, konnten wir überhaupt nicht baden. Habt ihr fließendes heißes Wasser?« »Natürlich nicht. Wir machen Wasser auf dem Herd heiß und geben es dann zu dem kalten in der Wanne dazu. Jeden Samstag gehen wir ins öffentliche Badehaus, um uns zu waschen. Wie alle Leute in Leningrad.«
Alexander nickte. »In Leningrad, in Moskau, in Kiew, in der ganzen Sowjetunion.«
»Wir haben noch Glück. In den großen Städten gibt es wenigstens fließendes Wasser. Auf dem Land haben sie noch nicht einmal das. Deda hat es so
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