Die Liebenden von Leningrad
Tolmachewo zurückholen soll.«
Das hatte Tatiana nicht erwartet. Sie hatte etwas anderes hören wollen. Stattdessen sprach Alexander über Pascha, den er noch nicht einmal kannte. »Warum?«, fragte sie schließlich.
»Weil die Gefahr besteht, dass Tolmachewo in die Hände der Deutschen fällt«, sagte Alexander nach einer Weile. »Wovon redest du?« Sie verstand überhaupt nichts und wollte auch gar nichts verstehen. Sie wollte sich nicht ärgern. Sie hatte sich so gefreut, dass Alexander sie aus freien Stücken abgeholt hatte! Und jetzt sprach er ausschließlich über Pascha, Tolmachewo und die Deutschen. War er nur zu Kirow gekommen, um sie zu warnen?
»Red mit deinem Vater, damit er Pascha aus Tolmachewo herausholt. Warum hat er ihn überhaupt dorthin geschickt?«, fragte Alexander jetzt drängend. »Um ihn in Sicherheit zu bringen?« Er erschauerte und ein Schatten glitt über sein Gesicht. Aufmerksam forschte Tatiana in seiner Miene nach einer weiteren Erklärung. Aber er sagte nichts mehr. Tatiana räusperte sich. »Dort sind jetzt die Sommerlager. Deshalb hat Vater ihn dorthin geschickt.«
Alexander nickte. »Ich weiß. Viele Leningrader haben ihre Söhne gestern dort angeblich in Sicherheit gebracht.« Sein Gesicht war ausdruckslos.
»Alexander; die Deutschen sind auf der Krim«, sagte Tatiana. »Das hat Genosse Molotow selbst gesagt. Hast du nicht seine Rede gehört?«
»Ja, sie sind auf der Krim. Aber unsere Grenze zu Europa ist zweitausend Kilometer lang. Hitlers Armee steht an jedem einzelnen Meter dieser Grenze, Tania, von Bulgarien bis nach Polen.« Für einen Augenblick schwiegen sie beide. »Im Moment ist Leningrad auf jeden Fall der sicherste Ort für Pascha. Wirklich!«
Tatiana war skeptisch. »Woher willst du das wissen?«, fragte sie aufgebracht. »Warum verkünden sie denn im Radio ständig, dass die Rote Armee die stärkste auf der ganzen Welt ist? Wir haben Panzer, Flugzeuge, Artillerie, Gewehre ... Im Radio behaupten sie etwas völlig anderes als du, Alexander.« Aus ihrem Mund klang es fast wie ein Vorwurf. Er schüttelte den Kopf. »Ach Tania ...«
»Was, was, was?«, erwiderte sie und brachte ihn damit fast zum Lachen. Sie selbst hätte trotz ihres ernsten Gesichts auch beinahe gelacht.
»Tania, wir leben in Leningrad schon viele Jahre mit der unsicheren Grenze zu Finnland. Sie ist schließlich nur zwanzig Kilometer weit entfernt. Wir haben versäumt, den Süden zu schützen. Und von dort kommt jetzt die Gefahr.«
»Wenn das stimmt, warum schickst du Dimitri dann nach Finnland, wo doch deiner Meinung nach alles ruhig ist?« Alexander schwieg. »Aus Dankbarkeit«, erwiderte er schließlich. Tatiana spürte, dass er ihr nicht alles sagen wollte. »Ich gehe davon aus«, fuhr er fort, »dass wir all unsere Streitkräfte auf den Norden konzentriert haben. Aber im Süden oder Südwesten steht keine einzige militärische Einheit. Verstehst du, was ich damit sagen will?« »Nein«, entgegnete sie abweisend. »Red mit deinem Vater über Pascha«, wiederholte er. Schweigend gingen sie nebeneinander durch die stillen Straßen. »Hör zu«, sagte Alexander schließlich, »wegen gestern ... es tut mir Leid. Was hätte ich machen sollen? Deine Schwester und ich ... Ich wusste nicht, dass sie deine Schwester ist. Wir hatten uns im Sadko kennen gelernt...« »Ich weiß. Natürlich. Du brauchst mir nichts zu erklären«, unterbrach Tatiana ihn. Zumindest hatte er das Thema angeschnitten ... Das bedeutete ihr sehr viel. »Doch, ich will es dir erklären. Es tut mir Leid, wenn ich dich ... verärgert habe.«
»Nein, überhaupt nicht. Es ist alles in Ordnung. Sie hatte mir von dir erzählt. Sie und du ...« Tatiana fand nicht die richtigen Worte, deshalb wechselte sie schnell das Thema. »Wie ist denn Dimitri? Ist er nett? Und wann kommt er aus Karelien zurück?« Wollte sie das wirklich wissen?
»Ich kann es dir nicht sagen. Wenn seine Mission dort beendet ist. In ein paar Tagen.«
»Ich werde langsam müde. Können wir jetzt mit der Straßenbahn fahren?«
»Sicher«, erwiderte Alexander zögernd. »Lass uns auf die Nummer sechzehn warten.«
Erst als sie sich in die Straßenbahn setzten, begann er wieder zu sprechen. »Tatiana, zwischen deiner Schwester und mir ist nichts Ernstes. Ich werde ihr sagen ...«
»Nein!«, rief sie aus. Zwei Männer vor ihnen drehten sich um und sahen sie fragend an. »Nein«, wiederholte sie leiser, aber genauso nachdrücklich.
»Alexander, das ist unmöglich.«
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