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Die Liebenden von Leningrad

Die Liebenden von Leningrad

Titel: Die Liebenden von Leningrad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paullina Simons
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über Molotow erzählt.« »Er hat Recht.« Alexander nickte. »Aber selbst in Moskau funktioniert die Toilettenspülung höchstens sporadisch. Die Badezimmer stinken. Irgendwie haben meine Eltern und ich uns daran gewöhnt. Wir haben über offenem Feuer gekocht und uns vorgestellt, wir seien die Familie Ingalls.« »Wer?«
    »Die Familie Ingalls hat Ende des 18. Jahrhunderts im amerikanischen Westen gelebt. Allerdings war das eine Art sozialistischer Utopie. Wir aber waren hier, in der Sowjetunion. Hier war der wirkliche Sozialismus. Einmal habe ich zu meinem Vater gesagt, er habe Recht, hier sei es viel besser als in Massachusetts. Ich meinte das natürlich ironisch. Er hat erwidert, man könne den Sozialismus nicht ohne Kampf aufbauen. Eine Zeit lang hat er es wahrscheinlich wirklich geglaubt.« »Wann bist du hierher gekommen?«
    »1930, direkt nach dem Börsenkrach von 1929.« Alexander registrierte Tatianas verständnislosen Gesichtsausdruck und seufzte. »Egal. Ich war elf und eigentlich wollte ich gar nicht weg aus Barrington.« »Du Armer«, flüsterte Tatiana.
    »Das Kochen auf dem kleinen Primusherd mit Kerosin war furchtbar lästig. Und dann die unsauberen Gerüche ... Meine Mutter hat zu trinken begonnen. Na ja, warum auch nicht? Schließlich trank jeder hier.« »Stimmt«, sagte Tatiana. Auch ihr Vater trank. »Und wenn sie betrunken war und die Toilette von anderen Ausländern, die in unserem Moskauer Palast wohnten, besetzt war, dann ging meine Mutter in den Park und erleichterte sich dort auf den öffentlichen Toiletten - einem einfachen Loch im Boden.« Er erschauerte bei seinen Worten und auch Tatiana lief es kalt über den Rücken. Wieder berührte sie Alexander leicht an der Schulter. Und weil sie unter dem schützenden Laubdach der Bäume saßen, weil er nicht von ihr abrückte und sonst keine Menschenseele zu sehen war, ließ Tatiana ihre schlanken Finger auf seiner Uniformjacke liegen. »Am Samstag gingen mein Vater und ich - wie du, deine Mutter und deine Schwester - ins öffentliche Bad und standen oft zwei Stunden lang in der Schlange, um eingelassen zu werden«, fuhr Alexander fort. »Meine Mutter ging immer freitags. Wahrscheinlich hat sie sich in dem Moment eine Tochter gewünscht, dann hätte sie nicht immer allein gehen müssen. Und sie hätte später wegen mir nicht so gelitten.« »Sie hat wegen dir gelitten?«
    »Sehr sogar. Im Anfang war es nicht so schwierig, aber mit der Zeit machte ich ihnen Vorwürfe wegen des Lebens, das wir hier führen mussten. Damals wohnten wir in Moskau. Wir waren eine Gruppe von siebzig Idealisten, mit Kindern, und wir lebten so wie du, teilten uns drei Toiletten und drei kleine Küchen auf einer Etage.« »Hmm«, sagte Tatiana. »Wie gefällt dir dieses Leben?«
    Tatiana überlegte. »Wir sind nur fünfundzwanzig auf unserer Etage. Aber ... na ja, was soll ich sagen? Ich mag unsere Datscha in Luga lieber.« Sie blickte Alexander an. »Dort sind die Tomaten frisch und die Luft riecht so sauber.« »Genau!«, rief Alexander aus, als sei sauber das Zauberwort. »Und ich bin nicht gern ständig mit so vielen Leuten zusammen«, fügte sie hinzu. »Ich hätte lieber ein bisschen ...« Sie brach ab, weil ihr das richtige Wort nicht einfiel. Alexander blickte sie eindringlich an.
    »Du weißt doch, was ich meine, oder?«, fragte Tatiana. Er nickte. »Ja, Tania.«
    »Sollten wir uns also tatsächlich darüber freuen, dass die Deutschen uns angegriffen haben?«
    »Damit tauschen wir einfach nur Satan gegen den Teufel.« Kopfschüttelnd erwiderte Tatiana: »Lass das bloß niemanden hören.« Aber neugierig war sie doch. »Und welcher ist dann Satan?«
    »Stalin, weil er eine Spur weniger wahnsinnig ist.« »Du und mein Großvater ...«, murmelte Tatiana gedankenverloren.
    »Was? Dein Großvater ist auch meiner Meinung?« Alexander lächelte.
    »Nein.« Sie erwiderte sein Lächeln. »Du bist der gleichen Meinung wie mein Großvater.«
    »Tania, mach dir nichts vor. Hitler mag zwar vielen Leuten, vor allem denen in der Ukraine, vorkommen wie ihr Befreier, aber du wirst sehen, wie schnell diese Illusionen zerschlagen werden. Genauso wie in Österreich, der Tschechoslowakei und in Polen. Aber ganz egal, wie dieser Krieg für die Welt ausgehen wird, hier in der Sowjetunion wird danach wieder alles beim Alten sein.« Alexander suchte nach den richtigen Worten. »Bist du eigentlich ... von deiner Familie abgeschirmt worden?«, fragte er. » Ich meine, vor den Dingen, die

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