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Die Liebenden von Leningrad

Die Liebenden von Leningrad

Titel: Die Liebenden von Leningrad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paullina Simons
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gewesen, weil es nur den einen gab. Sie musste sich einfach in westlicher Richtung halten.
    In Vyborg zeigte sie ihre Rotkreuzdokumente einem Wachtposten, tankte und fragte nach dem Weg nach Helsinki. Offenbar wollte der Mann wissen, was mit ihrem Gesicht passiert sei, aber da Tatiana kein Finnisch sprach, antwortete sie nicht, sondern fuhr einfach los, dieses Mal auf einer breiten, gepflasterten Straße mit acht Kontrollpunkten, an denen sie jedes Mal ihre Papiere und den verwundeten Arzt hinten im Wagen zeigen musste. Nach vier Stunden erreichte sie am späten Nachmittag Helsinki.
    Das Erste, was sie entdeckte, war die hell erleuchtete Nikolaus-Marine-Kathedrale, die auf einem Hügel über dem Hafen lag. Mehrere Male hielt Tatiana an, um nach der Universitätsklinik zu fragen, bis sie endlich auf jemanden traf, der so viel Englisch sprach, dass er ihr den Weg erklären konnte. Das Krankenhaus lag direkt hinter der Kirche, und Tatiana konnte es gar nicht verfehlen.
    Dr. Sayers war bekannt und beliebt in dem Krankenhaus, in dem er seit 1940 arbeitete. Die Krankenschwestern brachten eine Trage für ihn und stellten Tatiana alle möglichen Fragen, die sie nicht verstand.
    Dann trat ein anderer amerikanischer Rotkreuzarzt, Sam Leavitt, auf sie zu. Er warf einen Blick auf ihre Wunde in der Wange und erklärte, sie müsse genäht werden. Er wollte die Stelle örtlich betäuben, aber Tatiana lehnte ab. »Sie brauchen aber ungefähr zehn Stiche«, sagte der Arzt. »Nur zehn?«
    Stumm und bewegungslos saß sie auf dem Krankenhausbett, während er ihr die Wunde nähte. Danach gab er ihr Antibiotika und Schmerztabletten und brachte etwas zu essen. Die Tabletten nahm sie, doch das Essen ließ sie stehen. Sie zeigte auf ihre geschwollene, blutige Zunge. »Morgen«, flüsterte sie, »morgen ist es bestimmt besser. Dann kann ich auch etwas essen.« Die Krankenschwestern brachten ihr eine neue, viel zu große Schwesterntracht, warme Strümpfe und ein Flanellunterhemd und boten ihr an, ihre alten Sachen zu waschen. Tatiana gab ihnen die Uniform und ihren Mantel, behielt aber die Rotkreuzarmbinde.
    Später legte sie sich neben Sayers' Bett auf den Fußboden, bis eine Schwester kam und sie in ein anderes Zimmer führte. Tatiana legte sich gehorsam in ein Bett, doch sobald die Schwester verschwunden war, schlich sie zurück zu Dr. Sayers. Am nächsten Morgen hatte sich sein Zustand verschlechtert, aber Tatiana ging es besser. Sie bekam ihre eigene Schwesterntracht sauber und gestärkt zurück, und es gelang ihr auch, ein paar Bissen zu essen. Den ganzen Tag über hielt sie sich bei Sayers auf und blickte aus dem Fenster auf den Finnischen Meerbusen, den sie hinter den Dächern und kahlen Bäumen sehen konnte. Am späten Nachmittag erschien Dr. Leavitt, um nach ihrer Wunde zu sehen. Er fragte sie, ob sie sich nicht etwas hinlegen wolle. »Warum sitzen Sie hier die ganze Zeit? Warum ruhen Sie sich nicht aus?«
    Tatiana antwortete ihm nicht. Sie hatte doch nie etwas anderes getan - sie saß immer bei den Sterbenden. In der Nacht verschlechterte sich Sayers' Zustand noch mehr. Das Fieber stieg auf fast 42°, und er atmete stoßweise. Die Antibiotika schlugen nicht an. Tatiana saß auf dem Stuhl neben seinem Bett, und während sie seine Hand hielt, schlief sie ein. Mitten in der Nacht erwachte sie plötzlich. Sayers röchelte wie ein Sterbender. Tatiana legte ihm die Hand auf den Kopf und erzählte ihm auf Russisch und auf Englisch von Amerika und was er dort alles sehen und tun würde, wenn es ihm erst wieder besser ginge. Er schlug die Augen auf und sagte mit schwacher Stimme, ihm sei kalt. Sie holte ihm noch eine Decke. Dankbar drückte er ihre Hand. »Es tut mir Leid, Tania«, flüsterte er mühsam.
    »Nein, mir tut es so Leid«, erwiderte sie leise. »Dr. Sayers, Matthew ... ich bitte Sie, sagen Sie mir, was mit meinem Mann passiert ist. Hat Dimitri ihn verraten? Hat man ihn verhaftet? Wir sind in Helsinki. Ich werde bestimmt nicht mehr in die Sowjetunion zurückkehren. Ich verlange doch nicht viel für mich.« Sie senkte den Kopf. »Ich möchte nur ein wenig Trost.« »Geh nach ... Amerika, Tania.« Seine Stimme wurde immer schwächer. »Das ist sein Trost.« »Trösten Sie mich mit der Wahrheit...« Der Arzt blickte Tatiana einen Moment lang an, dann schloss er die Augen. Ein letzter rasselnder Atemzug, dann war es vorbei. Tatiana hielt seine Hand bis zum Morgen.
    Eine Krankenschwester führte Tatiana schließlich sanft aus dem

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